OstfriesenKiller
nur ein kleiner Vorgeschmack auf das, was sie morgen erwartete. Der lief nur warm für die große Rede von der Tribüne herab. Morgen würde Ludwig Bongart sich an die Spitze einer Bewegung stellen und, bedroht von einem wahnsinnigen Killer, geschützt von den Scharfschützen der Polizei, den Unmut der Menge zum Ausdruck bringen.
Er wird aus Ulf einen Märtyrer machen, dachte sie. Und sich selbst in den Rang eines Popstars erheben. Das Ganze ist unaufhaltsam. Es hat eine Eigendynamik entwickelt, die niemand mehr stoppen kann.
Mit ihm würden sie Zuschüsse bekommen, institutionelle Förderungen, höhere Pflegesätze, mehr Personal. Das Freizeitheim würde renoviert werden. Mit Sicherheit würde es neue, behindertengerechte Busse geben. Dem würde kein Kommunalpolitiker standhalten.
Seine schwangere Freundin Pia saß neben ihm und himmelte ihn an. Da stand er, der junge Held, der bald auch noch Vater werden würde.
Natürlich würde sie auf der Tribüne neben ihm stehen, wie die Politikerfrauen, die ihre Männer zu den Wahlkampfkundgebungen begleiteten, um zu zeigen, wie liebenswert diese waren.
Ludwig erteilte Jutta das Wort. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.
Zuerst brachte Ann Kathrin Tamara nach Hause, dann fuhr sie mit Sylvia zur Villa Kunterbunt. Im Autoradio lief Musik von Simon & Garfunkel. Wie schon auf der Fahrt vom Fitness-Studio legte Sylvia ihren Kopf wieder auf Ann Kathrins Knie. Sie ließ nur ihre Füße auf dem Sitz. Sie wirkte ganz in sich versunken. Ihre Antworten kamen wie aus einer andern Welt.
Ann Kathrin streichelte über Sylvias Kopf. Sie spürte, wie Sylvia wieder zu einem Mädchen werden wollte.
»Ich finde es gut, dass du den Tim rausgeworfen hast«, sagte Ann Kathrin.
Es dauerte eine Weile, dann antwortete Sylvia: »Der Ludwig hat gesagt, ich soll auch neue Schlösser einbauen lassen, damit der Tim nicht einfach kommen und sich irgendwas bei mir rausholen kann.«
»Ja, das ist auch besser. Wer weiß, wer noch alles eine Kopie von deinen Schlüsseln hat. Hast du vielen Männern deine Schlüssel gegeben?«
»Nur, wenn sie einen wollten«, antwortete Sylvia, als sei das völlig normal.
»Hat Stefan Garrelts auch einen Schlüssel?«
»Der nicht. Aber sein Freund, der Uwe Niessen.«
»War der auch im Kino?«
»Ja, vorne in der ersten Reihe.«
»Und? Ist der auch so einer wie der Stefan?«
»Nein, der ruft nur manchmal an, wenn er was braucht.«
»Was braucht der denn so?«
»Wenn er mit seiner Freundin Krach hat, dann kommt er und übernachtet bei mir.«
»Bei dir? Heißt das, in deinem Bett?«
»Manchmal ja.«
Ann Kathrin kämpfte mit den Tränen, während sie mit links den Wagen steuerte und mit rechts Sylvias Kopf streichelte.
Im Radio liefen jetzt die Nachrichten. Es war ein Samstag der üblichen Attentate. In einem Café im Westjordanland war eine Bombe explodiert, die mindestens zehn Tote und vierzig Verletzte gefordert hatte. In Bagdad und Mossul hatte es Selbstmordattentate gegeben.
Ann Kathrin spürte, wie Sylvia sich veränderte. Ein Zittern lief durch ihren Körper, als würde sie sich verkrampfen. Sie hatte sich aufrecht im Auto hingesetzt und trat jetzt gegen das Radio.
»Sie sind überall«, schrie sie, »überall!«
»He, was machst du? Hör auf!«
Ann Kathrin hatte Mühe, den Wagen unter Kontrolle zu halten.
»Die bringen uns alle um, die Schweine! Wir müssen sie stoppen!«
Sylvia begann im Wagen regelrecht zu toben. Ann Kathrin fuhr an den Seitenstreifen und versuchte, Sylvia festzuhalten, um sie zu beruhigen.
»Vielleicht ist hier im Auto auch schon eine Bombe!«, schrie Sylvia.
»Beruhige dich, beruhige dich! Das mit dem Attentat, das war nicht hier, das war in Israel und im Irak! Das ist sehr weit weg.«
Sylvia stieß ihre neue Freundin zurück. »Du hast ja keine Ahnung! Wir werden alle sterben!«
Sylvia öffnete die Beifahrertür, sprang aus dem Wagen und rannte los. Ann Kathrin lief hinter der panischen Sylvia her.
»Sylvia, bleib doch stehen! Was hast du denn?«
Sylvia lief auf eine ältere Dame zu, die krampfhaft ihre Handtasche festhielt. Wahrscheinlich vermutete sie, sie solle beraubt werden. Die beiden knallten zusammen. Die Dame fiel mit ihrer Handtasche in einen Vorgarten.
Sylvia schlug um sich, als würde sie angegriffen. Schon war Ann Kathrin bei ihr und versuchte, die keuchende Sylvia festzuhalten. Sie drohte zu hyperventilieren.
»Es ist ja gut, Sylvia, es ist gut. Schön ausatmen, ganz ruhig atmen. Alles ist gut.
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