Ostfriesenmoor: Der siebte Fall für Ann Kathrin Klaasen (German Edition)
Klaasens Beine waren schwer, als hätte sie Gewichte daran hängen. Der weißblaue Strandkorb auf ihrer Terrasse hatte jetzt eine geradezu magische Anziehungskraft. Sie nahm sich im Vorbeigehen aus der Küche die Rotweinflasche mit und ein großes Glas Leitungswasser.
Sie ließ sich in den Strandkorb fallen, und das Knarren des ausgetrockneten Holzes unter ihr tat ihr gut. Sie legte die Füße hoch. Noch war die Abendsonne nicht hinterm Deich versunken, aber die Birnbäume im Garten warfen schon lange Schatten.
Die Besuche bei ihrer Mutter schafften sie. Auf eine tiefe, grundsätzliche Art war sie danach in sich selbst versunken. Die Ermittlungsarbeit, selbst in schwierigen, aufwühlenden Fällen, erschien ihr leicht, verglichen mit der Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte. Sie hatte sich nie wirklich für ihre Mutter interessiert. Ihr Vater war ihre eigentliche Bezugsperson gewesen. Ja, sie war ein Papakind.
Es wäre für sie selbstverständlich gewesen, ihn mit nach Hause zu nehmen und dort zu pflegen. Bei ihrer Mutter kam sie gar nicht auf diese Idee. Sie waren sich immer merkwürdig fremd geblieben. Erst jetzt, da sie langsam in der Demenz verschwand, fühlte Ann Kathrin eine tiefe Verbindung.
Sie hielt ihr Gesicht in die milde Abendsonne, aber sie war zu pflichtbewusst, um hier einfach weiter ihren Gedanken nachzuhängen. Sie hörte den Vögeln zu, trank erst das Leitungswasser und nippte dann am Rotwein, bevor sie ihren Laptop holte, um ihre E-Mails zu überprüfen.
Taucher hatten das Skelett von Jule Freytag im Uplengener Moor gefunden. Es war ein sachlicher Bericht, doch was hier völlig emotionslos geschildert wurde, ließ einen Schauer über Ann Kathrins Rücken laufen.
Die Taucher hatten kein ganzes Skelett aus dem Moor gefischt, sondern die Knochen waren, nach Größe sortiert, zusammengebunden worden. Es gab Fotos. Auf eine irre Weise hatte sich jemand Mühe gegeben, das Ganze ordentlich zu machen, so als sei ihm peinlich, irgendwo unsortierte Reste herumliegen zu haben.
Wie zwanghaft muss jemand sein, der so etwas tut, dachte Ann Kathrin. Ein Ordnungsfanatiker?
Sie konnte nicht weiterlesen. Sie klickte die Bilder weg und trank das Rotweinglas mit einem Zug leer. Obwohl sie sich gerade noch so schwer gefühlt hatte, kam jetzt eine Unruhe in ihr auf, die es ihr unmöglich machte, im Strandkorb sitzen zu bleiben. Sie musste sich bewegen.
Sie streifte sich die Schuhe ab und hüpfte im Garten herum wie ein Kind. Sie sprang hoch zu den Zweigen des Birnbaums und fühlte die weiche Erde zwischen den Zehen hervorquellen. Der Rasen streichelte ihre Fußsohlen. Am liebsten wäre sie nackt zum Meer gelaufen, um in den Wellen der Nordsee Schutz vor dem Dreck der Welt zu suchen.
Die Bilder der sortierten und zusammengebundenen Knochen erinnerten sie an ihre Kindheit in Gelsenkirchen. Auf der Bismarckstraße gab es einen kleinen Laden, wohin ihre Mutter sie manchmal zum Einkaufen mitgenommen hatte. Es war später das erste Geschäft, in dem sie schon selbst einkaufen gehen durfte, mit einem Zettel in der Hand, den sie an der Kasse abgab. Dort hatten alle Dinge eine eigene Ordnung, waren fein säuberlich sortiert und aufgeschichtet.
Den ganzen Tag – wenn sie keine Kunden bediente – räumte Frau Schmidt darin herum, legte die Möhren der Länge nach zusammen, stapelte Pyramiden aus Dosen und sah die Gurken und Bananen immer mit einem leicht vorwurfsvollen Blick an, so als könne sie ihnen nie verzeihen, dass sie nicht gerade, sondern krumm gewachsen waren.
Als das Telefon klingelte, lief sie zunächst ins Haus und wollte in der Hoffnung, Wellers Stimme zu hören, sofort rangehen. Aber dann sah sie eine Oldenburger Nummer, die sie nicht kannte.
Sie schaffte es nicht, den Apparat einfach klingeln zu lassen, und ärgerte sich darüber. Ich bin so eine Art Telefonjunkie, dachte sie. Ich geh immer ran, weil ich denke, es könnte etwas Wichtiges sein, doch meist ist es nur Mist, der mir die Zeit stiehlt.
Ann Kathrin meldete sich nur mit »Ja?«.
Sie hörte die gepresste Stimme von Frau Professor Dr. Hildegard. Ann Kathrin wollte das Bild aus ihrem Kopf verbannen, aber je mehr sie versuchte, nicht daran zu denken, umso deutlicher wurde es.
»Ich muss mit Ihrem Mann reden, Frau Weller.«
»Ich bin nicht Frau Weller. Frank und ich sind nicht verheiratet. Sie sprechen mit Ann Kathrin Klaasen.«
»Ist ja auch völlig egal. Ich habe eine Information für die Kriminalpolizei.«
»Hat das Zeit bis
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