Ostfriesenmoor: Der siebte Fall für Ann Kathrin Klaasen (German Edition)
kommen.
Zunächst glaubte er, sie sei betrunken, aber dann, mit jedem Schritt, den sie näher kam, vermutete er, dass noch etwas anderes geschehen war. Der Verdacht setzte sich in ihm fest: Lucy hatte die letzte Nacht nicht alleine verbracht.
Er presste die geballte Faust gegen die Fensterscheibe und glaubte, sie schon knirschen zu hören. Langsam bekam er eine Vorstellung davon, wie Lucy und Gundula es geschafft hatten, aus Wolfgang einen gewalttätigen Mann zu machen. Die beiden weckten echt das Schlimmste in einem Mann, das wurde ihm gerade klar.
Er fühlte sich dadurch keineswegs ausgesöhnt mit Wolfgang, oh nein. Im Gegenteil. Aber ihm wurde klar, was ihn erwartete, wenn er hier nicht durchgriff. Wenn er sich alles gefallen ließe wie dieses Weichei, dann würde er irgendwann ausrasten.
Hier musste sich einiges ändern. Es würde ab sofort neue Spielregeln geben, und die würde er aufstellen. Noch heute.
In Gedanken legte er sich Sätze zurecht wie: Was bildest du dir eigentlich ein? Weißt du, wie alt du bist? Du bist genauso ein blödes Luder wie dein Vater! Ab jetzt werden hier andere Saiten aufgezogen! Jetzt nehme ich die Erziehung in die Hand. Glaub ja nicht, dass du damit bei mir durchkommst! Den Rest des Urlaubs wirst du in der Ferienwohnung verbringen, und zwar in deinem Zimmer. Ich werde dir Rechenaufgaben stellen, die du löst. Du wirst die Beste in Physik und Algebra, das schwör ich dir! Flächenberechnungen werden wir üben!
Aber dann, als Lucy versuchte, die Tür zu öffnen, war sein Kopf wie leergefegt. Er packte sie bei den Haaren, riss sie herein und verpasste ihr ansatzlos zwei Ohrfeigen.
Er begriff augenblicklich, dass er damit einen Fehler gemacht hatte, denn sofort war Gundula aufgesprungen und eilte ihrer Tochter zu Hilfe.
»Bist du verrückt geworden?«, schrie Gundula. »Du kannst doch deine Wut nicht an dem Kind auslassen!«
Thomas Schacht stieß Gundula zurück. »Du hast ja keine Ahnung, wie das aussieht, wenn ich wütend werde!« Sein Zeigefinger kam bedrohlich nahe an ihr rechtes Auge. »Du hast mich noch nie wütend gesehen!«
Gundula ließ sich nicht irritieren. Sie zog Lucy von ihm weg und stellte sich vor ihre Tochter.
»Ich hab genug von solchem Terror! Ich will das nicht nochmal erleben! Ich hatte einmal in meinem Leben einen gewalttätigen Mann, du, das reicht mir. Ich mache das nicht noch einmal mit, das schwör ich dir! Wenn du sie oder mich noch einmal anfasst, verlasse ich dich.«
Er versuchte, über Gundulas Schulter hinweg Lucy noch einmal zu packen, aber die bückte sich, und er griff ins Leere.
Wie oft schon hatte Lucy solche Sätze von ihrer Mutter gehört? Allerdings waren sie damals noch an Wolfgang gerichtet gewesen, und Thomas spielte in ihrem Leben noch keine Rolle.
Wie lange würde es diesmal dauern, bis sie es schaffte, den Typen zu verlassen, fragte Lucy sich und begann zu kreischen.
»Der hat mich geschlagen! Der hat mich geschlagen!«
Lucy krümmte sich in der Ecke beim Schuhschrank zusammen. Ihre Mutter kniete vor ihr und streichelte ihr Gesicht.
»Herrjeh, es waren doch nur zwei Ohrfeigen«, sagte Thomas. »Ihr tut ja gerade so, als hätte ich sie mit einer Eisenstange vermöbelt.« Dann brüllte er: »Ich will jetzt klipp und klar wissen, wo du warst, Lucy!«
Gundula strich ihrer Tochter die Haare aus dem Gesicht und sagte ruhig. »Du hast geraucht. Du riechst nach Qualm.«
»Ja!«, brüllte Lucy, »Haschisch! Solltest du auch mal probieren, dann würdest du vielleicht etwas lockerer!«
Gundula wich zurück und betrachtete Lucy aus einem Meter Abstand.
Sie versuchte, Lucys Aussage zu relativieren: »Das sagt sie nur so, weil sie jetzt irgendetwas ganz Krasses heraushauen will, um uns zu schockieren.«
Lucy hielt die Augen geschlossen. Sie spürte die Anwesenheit von Thomas wie eine offene Tür, durch die klirrende Kälte ins Haus dringt.
»Oh nein, das hat sie nicht!«, schrie Thomas. »Dein Ex, die dumme Sau, hat mal wieder versucht, den coolen Papa zu spielen, der seiner Tochter alles erlaubt, Hauptsache, wir haben es ihr verboten!«
»Ich war nicht bei Papa«, sagte Lucy und kam sich dabei märtyrerhaft vor, wie ein Bekenner, der weiß, dass er für seinen Glauben hingerichtet wird.
»Reg dich ab«, forderte Gundula.
»Ein Kind wurde entführt, das andere ist pubertär. Da soll man nicht durchdrehen!« Er räusperte sich und bemühte sich um eine fast militärisch exakte Sprache: »Du wirst diese Ferienwohnung nicht mehr
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