Ostfriesenmoor: Der siebte Fall für Ann Kathrin Klaasen (German Edition)
(JVA Hamburg) .
Der junge Mann mit dem Knutschfleck deutete jetzt aufs Haus. »Guck mal, da oben ist einer am Fenster.«
»Ja«, tönte Schacht, »das ist er! Der Entführer Wolfgang Müller. Er hat meine Tochter, das Schwein!«
Zwei Schüler der Realschule plus flüsterten kurz miteinander und sangen dann:
»Lieber Wolfgang, sei so nett,
komm doch mal ans Fensterbrett!«
Jemand aus der vierten Reihe warf sein Eis. Es klatschte gegen die Fensterscheibe. Der Lehrer wusste sofort, wer der Übeltäter war, obwohl er es nicht gesehen hatte, und rief: »Noch ein so’n Ding, Samantha, und du fährst nach Hause!«
Schrader und Benninga kamen in einem Bulli angerast, der sich angeblich gut für die unauffällige Personenüberwachung eignete. Der Wagen war als Fahrzeug der Firma Saubermann getarnt.
Benninga biss noch einmal in seine Pizza. Das Ding schmeckte wirklich geradezu erschreckend gut. Er hatte es nicht übers Herz gebracht, die Pizza liegen zu lassen und hielt in der Linken noch ein tortengroßes Stück.
Schrader lief voran und wollte den Auflauf vor der Tür sofort beenden.
»Dies ist eine unangemeldete Demonstration! Ich muss Sie auffordern, sofort weiterzugehen!«
»Ist das auch einer von den Clowns aus der Theatergruppe, Herr Hansmann?«, fragte Kevin.
»Ja sicher. Dachtest du, echte Polizisten kommen mit einem Bulli angefahren und essen bei den Ermittlungen Pizza?«
Herr Hansmann fand es unheimlich lustig, Schrader zu sagen: »Das hätten Sie aber auch ein bisschen realistischer machen können. Haben Sie sich den Wagen einfach von Ihrem Nachbarn geliehen oder was? Hätten Sie nicht wenigstens einen alten BMW umspritzen können in dieses widerliche Kloblau der heutigen Polizeifahrzeuge?«
Hansmann erntete Gelächter von seinen Schülern. Sie fanden ihn klasse. Er war ein Pfundskerl, mit dem man so richtig gut Urlaub machen konnte.
Oben hinter der Fensterscheibe fasste Angela Riemann den Arm von Wolfgang Müller und drückte ihn. Er vibrierte. Sie konnte sein inneres Zittern spüren, und sie wusste nicht, was er als nächstes tun würde. Er konnte schrecklich ausflippen. Er hatte es ihr erzählt. Noch hatte er sich im Griff. Die Frage war, wie lange er diesem Druck standhalten konnte.
»Kümmere dich gar nicht darum«, sagte sie. »Geh jetzt bloß nicht raus. Sag nichts. Die werden wieder gehen. Wenn der Chor der Blöden singt, sollte man ihm nicht zuhören. Lass uns einfach weggehen von hier. Vergiss Gundula und ihren Schwachkopf da draußen. Wir werden eine eigene, kleine Familie haben. Wir werden uns lieben und zusammenhalten. Du sollst mein Mann sein und ich deine Frau. So einfach kann alles sein. Die Welt ist nicht gut, Wolfi. Wir sollten uns zurückziehen und sie sich selbst überlassen.«
Er stieß sie weg. Sie roch merkwürdig, als hätte sie ein neues Parfüm benutzt oder gerade Milchreis gegessen, mit Zimt, Zucker und Vanille. In seinem aufwallenden Zorn hätte er ihr fast gesagt: Hau ab, du riechst wie eine Kuh. Aber dann tat er es doch nicht. Er zog sie stattdessen zu sich heran und legte einen Arm um sie.
»Man kann nicht immer so einfach abhauen im Leben, Angie. Ich bin zu oft abgehauen. Meistens habe ich mich in Alkohol geflüchtet. Das ist vorbei. Das mache ich nicht mehr. Ich stehe das jetzt durch, egal, was passiert.«
»Die Zwillinge sind bestimmt von dir«, sagte sie.
»Ich vermute es. Aber sie verweigern mir die Gewissheit. Wir werden sie uns holen.«
»Schön wär’s ja«, flüsterte sie und kuschelte sich an ihn. »Oder muss ich dann Angst haben, dass du auch die Mutter willst?«
Er lachte gegen seine eigene Überzeugung besonders laut an, um Angela zu beruhigen. »Oh nein. Ich will nur dich. Aber meine Kinder hätte ich schon gern – wenn sie es wirklich sind. Und Lucy ebenfalls.«
»Ich weiß«, sagte sie, »ich weiß. Ich würde alles tun, damit deine Wünsche in Erfüllung gehen können. Aber wenn wir jetzt hier sitzen und warten, bis die uns lynchen, hilft das auch nicht.«
»Die lynchen keinen«, versprach er heldenhaft. »Das sind Weicheier, die laufen schon weg, wenn es nur ein bisschen anfängt zu regnen.«
Minuten später zog von Westen her eine schwarze Wolke heran, und da wusste Angela Riemann, dass Wolfgang recht gehabt hatte. Die Leute verstreuten sich in alle Richtungen, liefen in ihre Hotels und Ferienwohnungen oder suchten in Restaurants und Cafés Unterschlupf. Nur einer blieb ungerührt stehen: Thomas Schacht.
Die Farbe auf seinem Plakat
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