Ostfriesensünde
Hecke entlang zur Küche, wo ein Fenster sperrangelweit offen stand.
Er stieg ein. Offensichtlich hatte Stenger ihn nicht auf einem der Monitore gesehen. Der alte Haudegen wurde nachlässig.
Auf der Arbeitsplatte lag frisches Gemüse. Rote, gelbe und grüne Paprika, Zwiebeln, Sojakeime und Tomaten. Der gusseiserne Wok stand auf der Ceranplatte. Die Spülmaschine lief.
Schon war er auf der Treppe. Er hörte Stengers Stimme. Entweder telefonierte der Alte oder er führte mal wieder Selbstgespräche. Stenger hatte so eine Art, sich selbst laut Anweisungen zu geben oder zu loben, die er lächerlich fand.
»Pass auf Junge, jetzt wird es kritisch.« – » Vorsicht, Falle.« – »Hast du gut gemacht, hast du fein gemacht, darum wirst du
auch nicht ausgelacht.« – »Ja! Tschakka! Tschakka! Du bist der Champion!« – »Tausend Punkte, Bingo!«
Vielleicht wurden Menschen so, denen niemand Grenzen setzte und denen niemand mehr die ehrliche Meinung sagte. Stenger war umgeben von Schleimern und unterwürfigen Menschen. Vor ihm hatte man Angst oder man versprach sich etwas von ihm, nur in ihm hatte Stenger seinen Meister gefunden und nun war es Zeit, dieses Leben zu beenden.
Er stieß die Tür auf. Wieder bremste dieser hellblaue Teppich.
Stenger hielt in der Rechten eine Whiskyflasche. Bunnahabhain Single Islay Malt, 12 Jahre alt, seine Lieblingsmarke, und in der Linken ein Whiskyglas. Stenger goss sich den zweiten Doppelten ein. Ohne Eis, wie immer. Er schreckte auf. Für einen Moment befürchtete er, Ann Kathrin Klaasen sei zurückgekommen. Als er seinen alten Kumpel sah, lächelte er zunächst, dann registrierte er die Handschuhe und begriff, dass er gekommen war, um ihn zu töten.
Er feuerte ohne Vorwarnung dreimal aus seiner Walther auf Stenger. Er schoss bewusst nicht auf lebenswichtige Organe. Er hätte ihn mit jeder Kugel treffen können. Aber niemand sollte Rückschlüsse auf einen Profi ziehen können.
Das erste Geschoss zerfetzte Stengers Brust, verfehlte aber sein Herz. Das zweite trat links über dem Bauchnabel in den Körper ein und am Rücken wieder aus. Das dritte blieb im Oberschenkel stecken.
Der Schalldämpfer ließ es nur ploppen. Er benutzte Schalldämpfer mehr, um seine eigenen Ohren zu schonen. Er war im Alter empfindlich geworden. Das Knallen einer abgefeuerten Waffe machte ihn manchmal für Tage fast taub. Er konnte kaum noch klassische Musik hören. Ja, sein Gehör hatte in den letzten Jahren am meisten gelitten.
Stenger wand sich auf dem hellen Teppich, und sein Blut verklebte
die Langhaarfransen. Ohne sich von der Stelle zu bewegen, feuerte er noch zweimal auf Stengers Kopf. Dann goss er sein Benzin aus. Der blaue Teppich war imprägniert. Komischerweise sog er das Benzin nicht auf, sondern es bildeten sich große Lachen.
Er würde hier nicht nach verdächtigem Material suchen. Das Feuer war garantiert gründlich.
Er öffnete ein Fenster, damit die Flammen genug Luft bekamen. Dann zog er eine Benzinspur hinter sich her in den Flur. Auf der Treppe warf er ein Streichholz hinein.
In dem Moment öffnete die Chinesin die Tür. Sie hielt eine Wasserkaraffe mit beiden Händen fest. Sie öffnete den Mund zu einem Schrei, doch noch bevor ein Ton herauskam, durchbohrte ein Neun-Millimeter-Geschoss ihre Stirn.
Ann Kathrin fühlte sich ausgepowert. Eine merkwürdige, fast beängstigende Leere machte sich in ihr breit. Sie wünschte sich einen Beamer, um sich augenblicklich von Wiesbaden an die Nordsee zurück katapultieren zu lassen. Sie konnte sich jetzt nicht vorstellen, sieben Stunden im Zug zu sitzen. Es gab noch einen Zug über Mainz mit Umsteigen in Münster nach Emden. Der war dann um null Uhr achtundzwanzig in Emden.
Sie beschloss, lieber am anderen Morgen loszufahren. Start der Reise um acht Uhr sechsunddreißig im Hauptbahnhof Wiesbaden, Ankunft fünfzehn Uhr achtundvierzig in Norden, wenn alles gutging, und seit den Privatisierungsversuchen ging selten alles gut. Bahn fahren war teurer geworden, aber sicherlich nicht besser.
Um sich ein bisschen geborgen zu fühlen, ging Ann Kathrin ins Fischrestaurant Argo am Markt. Es gab eine gute griechische Küche. Sie konnte draußen sitzen und die Abendsonne spüren. Eine Weile liebäugelte sie mit Seelachs, Kabeljau oder einer Taunusforelle. Dann wählte sie aber doch lieber einen Loup de Mer
auf agäische Art, dazu ein Weizenbier. Es passte nicht wirklich zusammen, aber sie hatte solchen Durst, dass sie den jetzt unmöglich mit
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