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Ostfriesensünde

Ostfriesensünde

Titel: Ostfriesensünde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus-Peter Wolf
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Birnbäume noch Schatten. Es gab dunkle Ecken bei der Hecke und an der Garage und graue, hellere, auf der Terrasse. Deutlich hoben sich die vom Wind bewegten Äste gegen den sternklaren Nachthimmel ab.
    Aber das hier war anders. Eine völlig neue Erfahrung, mit nichts zu vergleichen. Hier drin war alles einfach nur schwarz. Hier sah man wirklich die Hand nicht vor Augen, und auch die Außengeräusche waren verschwunden. Sie hörte ihr eigenes Herz klopfen, und das Pulsieren ihres Blutes in den Adern hörte sich wie ein an- und abschwellendes Rauschen an. Mystisch. Beunruhigend. Fremd und bekannt zugleich.
    Sie war ganz auf ihren Tastsinn angewiesen, und sie bildete sich ein, den Beton auf der Zunge schmecken zu können. Die
Steine gaben einen Geruch ab, der sie an eine offene Gruft erinnerte und an ihren ersten Besuch in einer Tropfsteinhöhle in der Bing-Höhle in Franken bei Streitberg. Ihr Vater hatte ihr den Unterschied zwischen Stalagmiten und Stalaktiten erklärt: »Stalagmiten steigen, wie unsere Miete zu Hause in Gelsenkirchen.«
    Es war ihr, als würde sie jetzt wieder den Windzug aus der Höhle auf der Haut spüren, diese feuchte, kalte Luft, dabei saß sie in einem Raum ohne die geringste Luftbewegung.
    Ihre Mutter war damals nicht mit in die Höhle gegangen. Sie hatte irgendeine Ausrede gefunden, lieber draußen einen Kaffee zu trinken. Aber Ann Kathrin wusste genau, dass ihre Mutter sich nicht traute. Sie hatte Phobien. Geschlossene Räume verursachten ihr Angst. Niemals wäre sie in einem Fahrstuhl gefahren. Sie ging immer zu Fuß, »weil das fit hält«. U-Bahnen waren ihr ein Gräuel, und wenn sie in Urlaub fuhren, studierte sie vorher genau die Karte, ob die Fahrt auch nicht durch einen Tunnel führte.
    Ann Kathrin hatte sich damals in Streitberg ihrer Mutter gegenüber überlegen gefühlt. Sie war Papas tapferes Mädchen. Sie hatte mit ihm das Abenteuer erlebt. Sie hatte die Zunge so lange aus dem Mund gestreckt, bis ein Tropfen von der Decke darauf fiel.
    »Hoffentlich wächst dir jetzt nicht ein Stalagmit auf der Zunge!«, hatte ihr Vater gescherzt.
    Ann Kathrin schämte sich jetzt, weil sie ihrer Mutter nach dem Höhlenbesuch hochnäsig begegnet war. Sie hätte heulen können bei dem Gedanken. Sie erinnerte sich nur zu gut daran, wie triumphal das Gefühl gewesen war, gemeinsam mit Papa etwas getan zu haben, das Mama sich nicht traute. Von der Zeit an nahm sie jeden Fahrstuhl und ging nie mehr mit Mama zu Fuß, weil das gesünder war. O nein!
    Ann Kathrin biss in ihren Handrücken.
    Er mochte diese Wohngegend in Süderneuland. Ja, wenn sein Leben anders verlaufen wäre, hätte er sich durchaus vorstellen können, hierherzuziehen. Ein Altersruhesitz ohne jede Steigung, keine Berge, gute, ausgebaute Straßen, prima ärztliche Versorgung. Aber je mehr so ein Leben in unerreichbarer Entfernung verschwand, umso mehr wünschte er es sich. Vielleicht gar eine Frau. Nichts Aufregendes. Einfach einen Menschen, der zu ihm hielt, mit dem er reden konnte.
    Er lächelte gequält bei dem Gedanken. So etwas würde es für ihn nicht mehr geben. Er konnte mit keiner Partnerin auf dem Sofa am Kamin sitzen und ihr von seinen Sorgen erzählen, von seinen Gewissensbissen und seinen Irrtümern – und was nützen einem Heldentaten, wenn man nicht darüber reden kann? Jede Frau würde – bestenfalls – schreiend davonlaufen, wenn er ihr von seinem wirklichen Leben erzählte. Wahrscheinlich müsste er sie nach so einem Abend töten, um nicht von ihr verraten zu werden.
    Er ging langsam um den Rohbau herum, in dem Peter Grendel auf einem Klappstuhl vor der frischen Mauer saß, hinter der Ann Kathrin Klaasen im Dunkeln hockte. Er schlenderte wie jemand, der sich ziellos und mit viel Zeit die Gegend ansah.
    Der Boden war noch nass, aber es hatte längst aufgehört zu regnen. Er beschloss, ins Haus zu gehen. Er überprüfte routinemäßig den Sitz der Beretta im Schnellziehholster. Die Waffe steckte wie immer einsatzbereit an ihrem Platz. Das Klappmesser in der rechten Jackentasche auch. Er hatte die zwölf Zentimeter lange Klinge ein paar Mal direkt neben die Beretta gehalten und gefeuert. Jetzt klebten Schmauchspuren daran.
    Er lächelte. Das würde jeden Gerichtsmediziner in den Wahnsinn treiben. Der Laborbericht würde unglaubhaft aussehen. Eine Stichwunde mit deutlichen Schmauchspuren, als sei das Messer mit schwefelhaltiger Munition aus einer Waffe abgefeuert worden. Die konnten heutzutage so viel, es war

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