Ostfriesensünde
registrierte das alles kalt und wertete die Erfahrung aus, als ob sie am Bildschirm eine Akte lesen würde.
Je länger sie in dieser eingemauerten Situation grübelte, umso mehr erschien ihr Leben ihr als eine Kette von Versagen und Scheitern. Im Grunde hatte sie nichts wirklich richtig gemacht. Ihre Ehe war zerbrochen, und die Beziehung zu ihrem Sohn auch. Ihre Mutter war immer ein Buch mit sieben Siegeln für sie geblieben, und den Mörder ihres Vaters hatte sie auch nicht gefasst. Selbst die Orchideen, die ihr im Haus eingegangen waren, mussten nun als Beweis herhalten, dass sie im Grunde zu Recht hier saß.
Peter Grendel würde sie nie hier rauslassen. Warum denn auch? Vermutlich hatten sich alle Nachbarn versammelt und
feierten ein Freudenfest, weil sie die doofe, arrogante Ann Kathrin, die ständig Geburtstage vergaß und deren Müllsäcke bei Sturm durch die ganze Siedlung flogen und sich in den Hecken der Vorgärten verfingen, endlich los waren. Sie würden Peter wie einen Helden feiern.
Ich rationalisiere, entschuldige den Täter und suche Gründe. Ich versuche, dem Wahnsinn einen Sinn zu geben, sagte die Profifrau in ihr.
Sie klopfte gegen die Wand.
»Peter, hol mich raus.«
Sie lauschte, aber es erfolgte keine Reaktion.
Weller kannte die Nummer nicht, hatte aber das komische Gefühl, es könnte wichtig sein. Er ging ran und wunderte sich. Er konnte dem Namen kein Gesicht zuordnen. Frauke Hellig. In welchem Zusammenhang hatte er den Namen schon einmal gehört?
Na klar, die Mathematiklehrerin von Ann Kathrins Sohn Eike.
Angeblich versuchte sie seit Tagen vergeblich, einen Erziehungsberechtigten zu erreichen. Eike schwänze seit Monaten immer wieder den Unterricht und sei in Mathe von einer guten Drei auf eine glatte Sechs gerutscht. Die letzte Arbeit konnte wegen eines offensichtlichen Täuschungsversuchs nicht gewertet werden.
Zunächst hob Weller zu Erklärungen an, der Junge wohne bei Ann Kathrins Mann und sie hätten nur wenig Kontakt, dann verkürzte er die Sache mit einem Blick auf die Uhr und versprach, sich darum zu kümmern.
Er hatte nicht einmal Eikes Handynummer eingespeichert. Auf dem Weg nach Delmenhorst machte er einen Abstecher nach Hage. Er merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Der Vorgarten machte einen verwahrlosten, ja verwüsteten Eindruck.
Jemand musste versucht haben, am Rosengitter hoch zum Fenster im obersten Stockwerk zu klettern. Dabei war das Rosengitter aus der Wand gebrochen und die herrlichen Kletterrosen lagen abgeknickt auf dem ungemähten Rasen, der inzwischen eigentlich mehr eine Wiese geworden war, auf der Gänseblümchen ein Zuhause fanden und Maulwurfshügel.
Die Haustür war nur angelehnt, die Garagentür stand offen. Ein Auto war nicht zu sehen. Aber aus der Garage schlug Weller ein Verwesungsgeruch entgegen, wie er ihn aus Tatorten kannte, an denen eine Leiche lange unentdeckt geblieben war.
Er betrat die Garage vorsichtig und entdeckte die grüne Biotonne. Der Geruch kam von dort. Maden krabbelten auf dem Deckel herum.
Weller nahm einen Besen aus der Ecke und öffnete vorsichtig die Tonne. Schlagartig wurde der Leichengestank beißender. Es hätte Weller nicht gewundert, wenn er in der Tonne einen Toten gefunden hätte. Er hoffte, dort nicht auf die Überreste von Eike zu treffen.
Aber dann sah er nur Fleischreste. Das da, in der angefressenen Plastiktüte, waren vermutlich früher einmal Koteletts gewesen. Direkt daneben machten sich wimmelnde Trauben hungriger Maden über Rippchen und Bauchfleisch her.
Weller stieß den Deckel wieder zu.
Wahrscheinlich ist das Garagentor offen, damit der Gestank nicht ins Haus zieht, sondern sich über die ganze Siedlung verteilt, folgerte er und ging ins Haus.
Direkt im Flur, zwischen Wohnzimmer und Küche, im Eingangsbereich bei der Garderobe, hatte jemand eine Pyramide aus Bierdosen gebaut. Heineken, Jever, Löwenbräu. Weller schätzte grob hundert Dosen.
Es waren ziemlich genau doppelt so viele. Die oberste Dose, Paulaner Weizen, erreichte die Decke.
Die eigentliche Garderobe war gar nicht zu erkennen. Ein
Berg türmte sich davor auf. Rucksäcke, Jacken, Turnschuhe. Weller stieß gegen ein Paar pinkfarbene Flipflops.
Im Wohnzimmer, oder besser gesagt in dem Raum, der vom Architekten eigentlich als Wohnzimmer geplant war, lagen Menschen in Schlafsäcken zwischen Pizzaresten und Laptops. Auch diesem Raum hätte ein kurzes Lüften gutgetan.
Auf dem Sofa wurde ein rothaariges Mädchen wach. Sie reckte
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