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Ostfriesensünde

Ostfriesensünde

Titel: Ostfriesensünde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus-Peter Wolf
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brauchte sie jetzt, das Gefühl, jederzeit ziehen zu können.
    So kannte sie sich gar nicht. Sie erschrak ein bisschen vor sich selbst. Aber war es nicht möglich, dass sich hinter Kim 12 der Mörder ihres Vaters verbarg, der sie genauso anlockte, wie er es mit Achim Kowalski getan hatte, um ihn dann mit einem gezielten Schuss zu erledigen? Vielleicht las er auch in den Gelsenkirchener Geschichten oder er hatte es gegoogelt.
    Wie verhält sich ein Mörder zig Jahre nach der Tat? Guckt er täglich im Internet nach, gibt er alle Namen der Opfer und Täter ein, um zu sehen, ob sich etwas tut?
    Früher sagte man in der Ausbildung, der Täter kommt gerne zum Tatort zurück, nimmt an Beerdigungen der Opfer teil, bietet der Polizei Hilfe an und sucht die Nähe zu den ermittelnden Behörden. Einige melden sich als Zeugen. Es ist mehr als der Versuch, herauszubekommen, ob jemand etwas weiß, es muss ein Prickeln, eine Genugtuung für den Täter sein, wenn die Kripo im Dunkeln tappt. Er erlebt, wie sich alle mit ihm und seiner Tat beschäftigen, ohne ihn zu kennen. Das tut seinem Ego gut. Gleichzeitig gibt es ihm die Gelegenheit, sich moralisch von der Tat abzugrenzen.
    War Kim 12 ein Pseudonym, das der Mörder benutzte, um ihr und den Ermittlungen nah zu sein, ohne sich preiszugeben? Schrieb Kim 12 deshalb so schlimme Sachen über ihren Vater, um erstens den Mord zu rechtfertigen und zweitens, um ihr weh zu tun und sie auf eine völlig falsche Fährte zu locken? War er ein hochintelligenter Sadist?
    Ann Kathrin griff nach hinten und überprüfte den Sitz ihrer Waffe. Ihre Augen suchten die Umgebung ab. Er konnte hier überall sein und sie beobachten. Hinter den schmierigen Fensterscheiben da oder in der Toreinfahrt. Im Dachgeschoss da oben stand einer weit vorgebeugt am offenen Fenster und rauchte,
linkisch, wie Menschen, die Zigaretten nicht gewöhnt sind oder denen es verboten war zu rauchen. Dadrüben saß einer im Auto und sah zu ihr rüber. Auf dem Parkplatz unterhielten sich zwei Männer. Bei den Bänken trank eine Gruppe Jugendlicher Bier aus Dosen, und eine Flasche Wodka kreiste.
    Der Josef-Büscher-Platz in Horst war gut gewählt, wenn er sie ausknipsen wollte. Ein Scharfschütze mit einem Präzisionsgewehr hätte tausend Möglichkeiten.
    Sie drehte sich rasch um ihre eigene Achse, weil sie ein verdächtiges Geräusch wahrgenommen hatte. Es war eine Taube mit einem weißen Kopf.
    »Sei froh, dass ich dich nicht erschossen habe«, sagte Ann Kathrin, und die Taube nickte zurück.
    Ein Wagen rollte auf Ann Kathrin zu. Er löste sich langsam, fast lautlos, aus einer Reihe von elf, zwölf parkenden Autos. Es war ein alter Ford Mondeo, der früher einmal silbern metallic gewesen war und jetzt eine dunkelbraune Motorhaube hatte und an der Beifahrerseite eine schmutziggelbe Tür. Die Frontscheibe war seit einigen Jahren nur noch von den Scheibenwischern geputzt worden und in dem abgezirkelten Bereich, den sie nicht erreichten, praktisch undurchsichtig.
    Im Laufe der Jahre hatte Ann Kathrin gelernt, dass es in gefährlichen Situationen darauf ankam, die nächsten Sekunden vorauszuberechnen. Fast jedes Ereignis schickte seinen Schatten voraus. Wer die Vorboten rasch genug richtig deutete, hatte die größten Chancen zu überleben oder wenigstens eine Runde weiterzukommen.
    In welche Ecke lasse ich mich fallen? Von wo kommt der Angriff? Schaffe ich das Überholmanöver, oder ist der LKW auf der Gegenspur zu schnell? Würde der Fahrer des Ford Mondeo gleich den rechten Fuß aufs Gaspedal knallen und versuchen, ihren Körper zwischen der Häuserwand und dem Kühler zu zerquetschen?
    Zwischen ihr und dem Mondeo lagen noch gut zwanzig Meter. Es gab mehrere Möglichkeiten, sich zu retten oder komplett lächerlich zu machen. Sie konnte auf den blauen Toyota springen und vom sicheren Dach aus mit der Heckler & Koch in den Kühler des Ford schießen oder direkt auf den Fahrer feuern. Sie hätte auch zwischen den anderen parkenden Autos Schutz suchen und mit dem Handy ihre Gelsenkirchener Kollegen zu Hilfe rufen können.
    Zwei stechende Augen fixierten Ann Kathrin durch die Frontscheibe des Fords. Noch zehn Meter.
    Es konnte auch alles völlig harmlos sein. Jemand fuhr seinen alten Ford vom Parkplatz, mit einer vollen Einkaufstüte auf dem Rücksitz und einem Kasten Bier im Kofferraum.
    Der Wagen steuerte direkt auf Ann Kathrin zu. Noch fünf Meter.
    Ann Kathrin wollte springen. Da änderte das Fahrzeug geringfügig die Richtung und

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