Ostseeblut - Almstädt, E: Ostseeblut
Asyl im eigenen Haus anzubieten und ihre Gegenwart dann rund um die Uhr zu ertragen, das waren eben zweierlei Paar Schuhe. »Entschuldige, Katja. Ich wollte nur etwas frische Luft reinlassen.«
»Und deshalb willst du jetzt auch mit dem Hund gehen? Weil du frische Luft brauchst? Ich finde es nicht gut, wenn du allein im Dunkeln draußen rumrennst.«
»Bitte, Katja! Es ist noch fast hell. Ich gehe nur durch die Siedlung.«
»Okay.« Sie machte eine ungeduldige Geste. »Wenn du unbedingt willst. Es wird schon in Ordnung sein, geh nur.«
Mit einem unguten Gefühl, mehr, was ihre Beziehung zu Katja betraf, als die Tatsache, dass sie das schützende Haus ein paar Minuten verließ, trat Solveigh ins Freie. Was Rainer wohl gerade machte? War er bei der Arbeit? Oder hatte er frei und saß zu Hause über seiner Sammlung? Nach der anfänglichen Funkstille, die seinem Übergriff auf sie gefolgt war, hatte er vorgestern Nacht begonnen, sie anzurufen. Erst auf ihrem Handy, dann unter Katjas Festnetznummer, und als ihm diese Möglichkeit auch verwehrt worden war, war er vor Katjas Haus aufgetaucht. Solveigh hatte ihn beobachtet, wie er auf der anderen Straßenseite unter der Laterne geparkt und gewartet hatte. Doch jetzt war die Straße leer.
Solveigh vermisste ihren Mann nicht. Nach allem, was er ihr in letzter Zeit angetan hatte, vermisste sie vor allem die erwartungsvolle Angst nicht, die sie in seiner Gegenwart fast ständig begleitet hatte. Trotzdem fühlte sie sich ohne ihn, nun ja … unvollständig. Warum konnte er denn nicht wieder so sein, wie er ganz am Anfang gewesen war? Sie mussten eben noch einmal von vorn anfangen, dachte Solveigh. Ohne Angst, ohne Vorwürfe, ohne Gewalt. Immerhin … sie konnte ihre Beziehung retten, Katja nicht. Das war der Grund dafür, weshalb Solveigh versuchte, das despotische Verhalten ihrer Freundin zu tolerieren.
Roxy zog an der Leine. Solveigh hatte keine Ahnung, wie sie dem großen Hund ihren Willen aufzwingen sollte. Sie ließ sich quer über den Weißdornweg bis zu dem Fußweg ziehen, der zwischen zwei Häuserblocks hindurchführte. Dahinter lag ein parkartiges Gelände, in dem Katja ihren Hund immer frei laufen ließ. Hier hörten die Straßenlaternen auf. Solveigh zögerte. Katja hatte recht, es war schon fast dunkel. Aber sie hatte ja einen Hund bei sich. Als sie das offene Gelände erreicht hatte, zog Roxy so kraftvoll an der Leine, dass Solveigh laufen musste. Einen Augenblick überlegte sie, ob sie dem leisen Fiepen nachgeben und die Hündin von der Leine lassen sollte, aber sie traute sich nicht. Was, wenn Roxy nicht zu ihr zurückkam? Sollte sie allein im Dunklen nach einem stromernden Hund suchen? Sie glaubte zwar nicht, dass Rainer ihr hier irgendwo auflauerte, trotzdem war ihr die ungewohnte Umgebung unheimlich. Auf den vereinzelten Bänken am Wegrand saßen manchmal die seltsamsten Gestalten. Betrunkene zum Beispiel konnte Solveigh gar nicht leiden.
»Tut mir leid, Roxy«, murmelte sie. »Heute nicht. Wenn du dein Geschäft verrichtet hast, drehen wir um.«
Der Hund entdeckte einen Stock im hohen Gras, zerrte ihn heraus und hielt ihn ihr im Maul entgegen. Die spitzen, weißen Hundezähne leuchteten im Zwielicht. Solveigh ignorierte die Aufforderung. Sie blickte zurück zu den Häusern, in denen fast überall Licht brannte. Neue Häuser, weiß, mit Erkern, die Tonnendächer hatten. Es sah ein bisschen wie eine romantische Festungsanlage aus. Solveigh stellte sich Familien vor, die hinter den erleuchteten Fenstern zusammen beim Abendbrot saßen, miteinander redeten, spielten und lachten. Sogar sich zu streiten erschien ihr besser, als allein zu sein. Ob sich Katja und Timo viel gestritten hatten?
Solveigh vermutete inzwischen, dass Katja eine Affäre hatte. Sie sprach nicht darüber, doch die Art und Weise, wie sie sich zurückzog, wenn ihr Mobiltelefon klingelte, war aufschlussreich. In der Garderobe des Restaurants mit dem Telefon in der Hand, neulich, nach Timos Beerdigung, hatte Katja geradezu schuldbewusst ausgesehen. Als wäre sie bei etwas wirklich Schäbigem überrascht worden. Alle, mit denen sie normalerweise in dieser Situation hätte sprechen können, waren ja im Restaurant gewesen. Und Katja besaß sowieso weniger Freunde und Bekannte, als Solveigh vermutet hatte. Sie war unbedarft davon ausgegangen, dass nur sie allein wäre. Eine Frau wie Katja, erfolgreich, selbstbewusst … Die Erkenntnis, dass Katja nicht viele Menschen hatte, die ihr nahestanden,
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