Ostseefluch
dieser Gesichtsausdruck, der besagte: Ich tu sowieso, was ich will! Und Zoes Hang zu Rüschen, Rosa und billigem Glitzerkram. Wo sollte das noch hinführen?
Du bist nur nervös, schalt Irma sich. In ihrem Haus beziehungsweise ihrem Garten war jemand ermordet worden. Schlimmer ging es wohl kaum ... Vielleicht sollte sie dem Druck der Rosinski und ihrer »Geschäftsfreunde« doch nachgeben und wegziehen. Für etwas Schmerzensgeld? Das Geschäft lief ohnehin nicht gut. Was hielt sie hier noch? Die Hausgemeinschaft, die ihr wichtig gewesen war, existierte nicht mehr. Milena war tot, und Patrick würde bestimmt auch nicht mehr lange bleiben. Aber Arne wollte Fehmarn nicht verlassen. Er hatte schon so viel Arbeit in Mordkuhlen gesteckt. Doch letzten Endes ... Würden sie je wieder dort leben können, ohne an das zu denken, was Milena passiert war? Und Zoe? Wie würde sie dort aufwachsen, mit der Last eines Mordes? Irma glaubte nicht an Geister. Selbst nach Aleisters recht beeindruckender Vorstellung nicht. Aber an die Boshaftigkeit der menschlichen Natur, daran glaubte sie.
Und diese Viecher machten ihr Angst. Ratten! Als sie gestern Nacht schlaflos im Bett gelegen hatte, hatte sie sie wieder gehört. Das Getrappel von Krallen. Sogar das Nachschleifen des langen Schwanzes meinte sie, erahnt zu haben. Ratten! Nicht schon wieder. Sie lebten in den Zwischendecken und auf dem Dachboden. Wenn man die Zugänge von außen abdichtete, wie Arne es vor einiger Zeit schon mal versucht hatte, nagten diese Viecher sich einfach durch das Holz. Als wäre es ihr gutes Recht. Sie verteidigen ihr Zuhause, genau wie wir, dachte Irma. Gegen alle Widerstände. Und sie finden immer irgendwo Nahrung ...
Irma achtete inzwischen peinlich genau darauf, dass nichts Essbares mehr frei zugänglich im Haus herumlag. Aber es passierte trotzdem. Zoe, Patrick, Arne – alle waren nachlässig. Arne hatte heute Morgen versprochen, sich um die Ratten zu kümmern. Aber das Rattengift, das man frei kaufen konnte, schien die Mistviecher gar nicht mehr zu interessieren. Eine Kundin, die auf einem Bauernhof lebte, hatte das Gleiche erzählt. Es gab kaum noch ein Gift, das bei Ratten richtig wirkte. Gift! Dass sie überhaupt daran dachte, Gift zu verwenden! Patrick, der Biologiestudent, hatte ihr die Wirkungsweise erklärt. Und die Folgeschäden. Aber was sollten sie tun? Abwarten, bis die Ratten so dreist wurden, dass sie nicht mal mehr flohen, wenn sich ein Mensch ihnen näherte? Irma schauderte.
Zoe begann, in ihrem Sitz zu jammern. Es war schon jetzt viel zu heiß.
In ihrem Geschäft angekommen, klemmte Irma die Ladentür erst einmal mit dem Papierkorb fest, sodass sie offen stehen blieb, und kippte im hinteren Bereich beide Fenster. Aber auch dadurch schien keine frische Luft hereinzukommen. Allenfalls neue.
Secondhandkleidung roch schnell muffig. Obwohl sie gewaschen oder chemisch gereinigt wurde, haftete ihr ein Geruch an, den neue Kleidung nicht besaß. »Die ungesunde Chemie ist weg«, pflegte Irma ihren Kundinnen zu sagen. »Weiß man, was man seinen Kindern mit fabrikneuer Kleidung antut? Nichts Gutes jedenfalls.« Patricks Organisation an der Uni hatte mal ein Faltblatt zu Giften in Textilien herausgegeben, das Irma bei Bedarf gern verteilte. Aber der muffige Geruch, der im Geschäft hing, nervte, gerade bei der Schwüle draußen.
Auf dem Tisch im hinteren Teil des kleinen Ladens lag ein Berg ungeordneter Kleidungsstücke, die Irma gestern angenommen hatte, und schien sie höhnisch anzugrinsen. Es war einfach zu viel Ware. Auch auf Kommissionsbasis. Es ging mehr rein als raus, das war das Problem. Sie würde hier drinnen noch ersticken.
Nachdem sie die ersten vertrauten Handgriffe im Geschäft erledigt hatte, wanderten Irmas Gedanken sofort wieder nach Mordkuhlen zurück. Es kribbelte zwischen ihren Schulterblättern, wenn sie nur an die Ratten dachte. Arne wird nicht damit fertigwerden, vermutete sie. Sie erinnerte sich an das Desaster mit den Wespen: wie er versucht hatte, das Wespennest mit einem Bunsenbrenner auszubrennen, und dabei fast das ganze Haus abgefackelt hätte. Sie brauchten professionelle Hilfe. Das würde etwas kosten. Aber war das nicht eigentlich Sache des Vermieters? Doch bevor die Rosinski sich rührt, haben die Ratten längst das Regiment übernommen, dachte Irma und suchte im Telefonbuch nach der Nummer des Kammerjägers. Sie hatte immer noch keinen Computer in ihrem Laden. Brauchte sie auch nicht.
Schädlingsbekämpfung
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