Ostseefluch
merken nicht, wie wir altern, weil wir uns immer noch so sehen, wie wir uns vor Jahren im Spiegel erblickt haben, dachte sie. Das Gehirn täuscht uns über unsere Falten, die erschlaffenden Wangen und Lider und den Ansatz des Doppelkinns hinweg. Eine gnädige Täuschung, aber dennoch eine Täuschung. Und die Menschen, die uns tagtäglich sehen, merken es auch nicht. Aber wehe, du gehst auf ein Treffen deines alten Schuljahrgangs oder zur silbernen Konfirmation! Dann siehst du, was die Zeit jedem Einzelnen antut. Dem einen früher, dem anderen etwas später. Doch ein Entkommen gibt es nicht.
Sie legte die Bürste beiseite und trat näher an den Spiegel heran. Bei ihr waren vor allem die Lider ein Problem. Sie ließen sie inzwischen müde, fast ein wenig verrucht aussehen. Das würde sie bald korrigieren lassen müssen und gleich einen Wellness-Urlaub in der Toskana anschließen – damit nicht so auffiel, dass sie sich einer Schönheits-OP unterzogen hatte. Aber dafür musste sie erst wieder etwas flüssiger sein ...
Maren Rosinski griff nach der neuen Creme, die sie sich in einem Anfall von Frust in der Parfümerie hatte aufschwatzen lassen. Die Verkäuferinnen schienen speziell dafür geschult zu sein, Kundinnen auszumachen, die gerade nicht in bester geistiger und körperlicher Verfassung waren, so wie Jäger die schwächsten Beutetiere auswählen und zur Strecke bringen. In ihrem Fall waren es achtundneunzig Euro gewesen, die sie für das Tiegelchen mit der Augencreme bezahlt hatte. Fast hundert Euro für ein bisschen Glycerin, Parfüm und jede Menge Wasser.
Was dachte sich Rudolf eigentlich? Seit ihrem Unfall – ja, es war ein Unfall gewesen! – war er kaum noch bei ihr gewesen. »Judith braucht mich jetzt«, hatte er in scheinheiligem Ton ins Telefon geflüstert, als stünde seine Ehefrau direkt hinter ihm. Dabei wusste Maren, dass er, wenn er zu Hause war, nur von seinem Arbeitszimmer aus mit ihr telefonierte. Und dann hatte er in vorwurfsvollem Ton nachgelegt: »Oder hast du etwa schon vergessen, was mit Milena passiert ist?«
Eine Frechheit! Wie sollte sie das vergessen können? Sie hatte das Mädchen schließlich auch sein kurzes Leben lang gekannt, und der Gedanke daran, dass es Mord gewesen war, versetzte sowieso ganz Weschendorf in Aufruhr! Hinzu kam, dass Milena in ihrem Haus gewohnt hatte und auch noch dort gestorben war.
Nicht, dass ich sie besonders gerngehabt hätte, dachte Maren und klopfte sich mit der Fingerkuppe ihres Mittelfingers die Creme unter die Augen.
Milena war ein schwieriges, wenig liebenswertes junges Mädchen gewesen. Es ging sogar das Gerücht, dass sie auf den Strich gegangen war. Wer hatte ihr das erzählt? Christian etwa? Oder hatte sich das nur irgendein Spaßvogel ausgedacht, weil es in Hinblick auf Judiths bigotte Frömmigkeit einfach eine gute Story abgab? Nein, es ist bestimmt was dran gewesen, dachte Maren. Milena hatte so etwas Billiges, Aufsässiges im Blick gehabt. Und sie hatte schamlos lügen können.
Man musste da nur an die Geschichte mit den geklauten Süßigkeiten im Tante-Emma-Laden von Weschendorf denken, den es schon seit zehn Jahren nicht mehr gab. Judith hatte ihrer Tochter nie die kleinsten Vergnügungen gegönnt, weil sie sie als sündig betrachtete. Sogar Schokolade war verpönt gewesen. Und das Ergebnis: Milena hatte sich kurz vor Ostern einfach, ohne zu bezahlen, die in Goldpapier verpackten Schokoladenosterhasen und jede Menge Ostereier in die Schultasche gestopft. Der Anruf der Ladenbesitzerin bei Rudolf Ingwers hatte nicht lange auf sich warten lassen. Von ihrem Vater zur Rede gestellt, war Milena heulend zusammengebrochen und hatte alles abgestritten. Rudolf hatte sich daraufhin furchtbar aufgeregt und die Ladeninhaberin zur Schnecke gemacht. Und am Ende? Ja, am Ende hatte man die gestohlenen Süßigkeiten in Milenas Zimmer im Bettkasten gefunden! Rudolf hatte seine Tochter gezwungen, das angeknabberte Zeug ins Geschäft zurückzubringen und sich zu entschuldigen, doch sie hatte es unterwegs in einer Abfalltonne entsorgt. Kein Rückgrat, das Mädchen, und auch keine Moral.
Was fast noch zu entschuldigen wäre, dachte Maren leicht belustigt, wenn sie wenigstens schlau genug gewesen wäre, es vor der Welt zu verbergen. Aber Milena war gänzlich nach Judith geraten. Rudolfs Gene hatten sich höchstens bei dem rötlichen Haar durchgesetzt, das sie, da waren sich Vater und Tochter ausnahmsweise einig gewesen, beide färbten. Milena zudem
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