Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Führungspositionen in Regierung und Verwaltung, aber Südafrika war nie ganz aus seinem Drittweltloch herausgekommen, und das einundzwanzigste Jahrhundert hatte Afrika nicht weniger übel mitgespielt als das zwanzigste. Die meisten Schwarzen waren immer noch arm. Und die meisten Weißen, für die der Übergang zur Herrschaft der Schwarzen nicht annähernd so schlimm gewesen war wie befürchtet, nicht.
Beim Umschauen blieb Renies Blick an einem jungen Mann ein paar Sitze hinter ihr hängen. Obwohl es bedeckt war, hatte er eine Sonnenbrille auf; er hatte sie beobachtet, aber als seine Augen – oder seine Brillengläser – ihrem Blick begegneten, wandte er sich rasch ab und schaute aus dem Fenster. Sie hatte einen kurzen Angstreflex, aber dann sah sie den Nebenschluß, der am Hinterkopf unter seiner Mütze hervorlugte, und begriff. Sie drehte sich um und drückte ihre Tasche ein bißchen fester an den Schoß.
Nach einer Weile schaute sie sich vorsichtig noch einmal um. Der Chargehead guckte immer noch aus dem Fenster, wobei seine Finger nervös auf der Lehne des Vordersitzes trommelten. Seine Sachen waren zerknittert und schweißfleckig in den Achselhöhlen. Die Neurokanüle war townshipmäßig eingesetzt, das heißt billig und schmutzig – sie konnte die glänzende Eiterung um das Plastikteil herum sehen.
Ein leichter Druck auf ihr Bein ließ sie zusammenfahren. !Xabbu sah ihr fragend in die Augen.
»Es ist nichts«, sagte sie. »Ich erzähl’s dir später.« Sie schüttelte den Kopf. Es hatte eine Chargehöhle in einer der Wohnungen gegeben, als sie und Stephen und ihr Vater eingezogen waren, und sie hatte ihre Zombiebewohner mehr als einmal im Treppenhaus getroffen. Sie waren im allgemeinen harmlos – längere Benutzung von Chargegear mit seinen superschnellen Strobe- und Infraschalleffekten machte die Leute eher unkoordiniert und passiv –, aber ganz geheuer waren sie ihr nie gewesen, einerlei, wie plemplem und weggetreten sie wirkten. Sie war als Studentin einmal gewaltsam von einem Mann im Bus begrapscht worden, der sie zweifellos überhaupt nicht sah, sondern auf irgendwelche unvorstellbaren visuellen Eindrücke reagierte, von denen er sich gerade das Gehirn zu Brei hämmern ließ, und hinterher hatte sie nie wieder über Chargeheads lachen können, wie ihre Freunde es taten.
Letzten Endes hatten sie sich als gar nicht so harmlos erwiesen, aber die Polizei schien nicht viel gegen sie unternehmen zu können, und als mehrere ältere Hausbewohner beraubt und einige der Wohnungen aufgebrochen worden waren, hatte eine Selbstschutzgruppe, zu der auch ihr Vater gehört hatte, Knüppel und Kricketschläger genommen und die Tür eingetreten. Die mageren Geschöpfe in der Wohnung hatten nicht viel Widerstand geleistet, aber dennoch war es nicht ohne blutige Köpfe und gebrochene Rippen abgegangen. Renie hatte die Chargeheads noch Monate später in Albträumen gesehen, wie sie im Zeitlupentempo die Treppe hinunterpurzelten, wie Ertrinkende mit den Armen fuchtelten und jaulende Geräusche machten, die sich eher tierisch als menschlich anhörten. Sie waren so gut wie unfähig gewesen, sich gegen diesen plötzlichen Ausbruch angestauter Wut zu wehren, der ihnen vielleicht nur als ein weiterer, wenn auch eher unbefriedigender Teil des Charge erschienen war.
Renie, die noch mitten in ihrer idealistischen Studentenphase gesteckt hatte, war schockiert gewesen, als sie entdeckte, daß ihr Vater und die anderen Männer die dort befindlichen Geräte und Programme – hauptsächlich billiges nigerianisches Zeug – mitgenommen und verkauft hatten, um den Erlös im Laufe der folgenden Woche zu vertrinken und sich dabei immer wieder die Geschichte ihres Sieges zu erzählen. Soweit sie wußte, hatte keiner der Beraubten aus dem Haus je etwas von dem Gewinn abbekommen. Long Joseph Sulaweyo und die anderen hatten sich das Privileg der Sieger erkämpft, das Recht, die Beute unter sich aufzuteilen.
Im Grunde war der Einfluß, dem sie in Mister J’s ausgesetzt gewesen war, von Charge gar nicht so verschieden, nur viel raffinierter. War das des Rätsels Lösung? Daß sie einem auf irgendeine Weise eine extrem hohe Ladung verpaßten – sozusagen eine Überladung – und dann eine Art hypnotischen Schäkel einbauten, der verhinderte, daß die Opfer die Schleife durchbrachen?
»Renie?« !Xabbu tippte abermals ihr Bein an.
Sie schüttelte den Kopf, als sie merkte, daß sie genauso starr ins Leere geblickt hatte wie der Mann mit
Weitere Kostenlose Bücher