Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
dazu bewogen, ihn auf diesen Gang mitzuschleifen.
Aber es waren meine Probleme, die ihn überhaupt erst in Gefahr gebracht haben, dachte sie zerknirscht.
»Was wirst du jetzt machen, wo du mit dem Studium fertig bist?« fragte sie. »Willst du noch ein Aufbaustudium dranhängen?«
Eine gewisse Melancholie stahl sich in seine feinen Gesichtszüge. »Ich weiß es nicht, Renie. Ich denke daran … es gibt Dinge, die ich noch nicht weiß. Ich habe dir ein wenig von meinen Plänen erzählt, aber ich merke jetzt, daß ich weit davon entfernt bin, sie verwirklichen zu können. Außerdem …« Er senkte verschwörerisch die Stimme und blickte den Gang hoch und runter, als rechnete er mit Spionen. »Außerdem«, fuhr er leise fort, »muß ich ständig an das … Erlebnis denken, das ich hatte. Als wir an jenem Ort waren.«
Das Krachen der Gangschaltung, als der Bus um eine Ecke bog, war ohrenbetäubend. Renie verkniff sich ein Lächeln. Wer sie bespitzeln wollte, mußte von den Lippen lesen können.
»Wenn ich irgendwie behilflich sein kann«, sagte sie, »laß es mich bitte wissen. Ich stehe tief in deiner Schuld. Ich könnte dir vielleicht helfen, ein Stipendium zu bekommen …«
Der Buschmann schüttelte energisch den Kopf. »Geld ist es nicht. Es ist komplizierter. Ich wünschte, es wäre ein Stadtproblem – dann könnte ich meine Freunde fragen und eine Stadtantwort finden. Aber dort, wo ich jetzt wohne, muß ich die Lösung für dieses Problem allein finden.«
Jetzt war es an Renie, den Kopf zu schütteln. »Ich fürchte, das verstehe ich nicht.«
»Ich auch nicht.« Mit einem Lächeln verscheuchte !Xabbu seine schwermütige Miene, aber Renie sah, daß er sich bewußt bemühte, und es versetzte ihr einen jähen Stich. War es das, was er in Durban gelernt hatte, in Durban und an den anderen Orten, wo die Stadtleute lebten, wie er sie nannte? Sich zu verstellen, seine Gefühle zu verbergen und einen falschen Anschein zu erwecken?
Wahrscheinlich sollte ich dankbar sein, daß er das nicht gut kann. Noch nicht.
Der Bus kroch eine Überführung hinauf. !Xabbu schaute aus dem Fenster auf das breite Flußbett der National Route 3 und den Verkehr, der darin selbst mitten am Vormittag so unaufhörlich dahinströmte wie Termiten in einem gespaltenen Baumstamm.
Erfaßt von einem plötzlichen Widerwillen gegen die Symptome des modernen Lebens, die ihr normalerweise selbstverständlich waren, wandte Renie sich ab, und betrachtete die anderen Fahrgäste. Die meisten waren ältere schwarze Frauen, unterwegs nach Kloof und in die anderen wohlhabenden nordöstlichen Vorstädte, um dort als Hausangestellte zu arbeiten, so wie sie und ihre Vorgängerinnen es schon seit Jahrzehnten taten, vor und nach der Befreiung. Die ihr am nächsten sitzende rundliche Frau mit ihrem traditionellen, mittlerweile aber ein wenig altmodischen Kopftuch hatte einen Blick, den jemand anders als Renie, die ihn gut kannte, leer genannt hätte. Es war nicht schwer zu verstehen, wieso weiße Südafrikaner früher zur Zeit der Apartheid in diesen ausdruckslosen Blick alle möglichen inneren Zustände hineinprojiziert hatten – Mißmut, Dummheit, sogar die Anlage zu mörderischer Gewalt. Aber Renie war unter solchen Frauen aufgewachsen und wußte, daß die Miene eine Maske war, die sie wie eine Uniform trugen. Zuhause oder auch in der Eckkneipe oder der Teestube konnten sie unbeschwert lachen und fröhlich sein. Aber als Arbeitskräfte der launischen Weißen war es von jeher einfacher gewesen, sich keine Blöße zu geben. Wenn man sich keine Blöße gab, konnte der weiße Boß nicht Anstoß nehmen oder Mitleid empfinden oder – was manchmal noch schlimmer war – sich eine Freundschaft einbilden, die zwischen derart Ungleichen nie wirklich bestehen konnte.
Renie hatte weiße Kollegen an der TH, und mit einigen traf sie sich manchmal sogar nach der Arbeit. Aber als Pinetown ein gemischtes Viertel geworden war, waren die Weißen, die es sich leisten konnten, weggezogen in Vorstädte wie Kloof und die Berea-Kuppe, immer nach hoch oben, als ob ihre schwarzen Nachbarn und Arbeitskollegen keine Individuen wären, sondern Teil einer gewaltigen dunklen Flut, die die Niederungen überschwemmte.
Der institutionalisierte Rassismus war zwar abgeschafft, aber die Trennmauer des Geldes war noch genauso hoch wie eh und je. Es gab inzwischen Schwarze in allen Bereichen und auf allen Stufen des Arbeitslebens, und Schwarze bekleideten seit der Befreiung die meisten
Weitere Kostenlose Bücher