Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
tippt!«
Susan machte die Hand wieder auf und drückte Renies Finger.
»Aber nur mit der rechten Hand?«
Ein zweimaliges Drücken. Nein. Susan machte eine Stoßbewegung mit dem Handballen, dann hob sie mühevoll den Arm und führte ihn auf ihre andere Seite. Renie nahm ihn und legte ihn sanft zurück.
»Ich verstehe. Wenn du so stößt, heißt das, daß du die Tipphand wechselst. Das heißt es doch, nicht wahr?«
Ja.
Es war immer noch eine langwierige Prozedur. Susan hatte große Schwierigkeiten, Renie begreiflich zu machen, welche Squeezertasten die Finger ihrer rechten Hand drückten, wenn sie die der linken sein sollten. Mit häufigen Unterbrechungen für Ja-nein-Bestätigungen und -Korrekturen dauerte es fast eine Stunde, bis sie mit ihrer Mitteilung fertig war. Susan war unterdessen ständig schwächer geworden, und die letzte Viertelstunde über hatte sie kaum mehr die Finger bewegen können.
Renie starrte die Buchstaben an, die sie an den Rand des Klinikspeisezettels notiert hatte. »E-N-S-E-D-L-E-K-R-E-S-V-R-S-I-H-T. Aber das gibt keinen Sinn. Es kann nicht ganz vollständig sein.«
Ein letztes, erschöpftes Drücken.
Renie stand auf und beugte sich über das Bett, um mit den Lippen Susans blutrot angeschwollene Wange zu streifen. »Irgendwie werde ich’s rauskriegen. Aber wir haben dich viel zu lange wach gehalten. Du mußt jetzt schlafen.«
Auch Jeremiah erhob sich. »Ich fahre dich zurück.« Er beugte sich über seine Arbeitgeberin. »Dann komme ich sofort zurück, Großmütterchen. Hab keine Angst.«
Susan machte ein pfeifendes Geräusch, das beinahe ein Stöhnen war. Er blieb stehen. Mit deutlicher Verzweiflung über ihre Unfähigkeit zu sprechen blickte sie erst ihn und dann Renie an. Ihre Augen blinzelten langsam, einmal, zweimal.
»Ja, du bist müde. Schlaf jetzt.« Dako beugte sich ebenfalls vor und küßte sie. Renie fragte sich, ob er das vielleicht gerade zum erstenmal getan hatte.
Auf dem Weg zum Auto hatte sie plötzlich das Gefühl zu wissen, was dieses Blinzeln hatte sagen wollen. Lebt wohl.
Als Dako sie absetzte, war es schon nach vier Uhr morgens. Sie war zu randvoll von erbittertem Zorn, um zu schlafen, und verbrachte deshalb die Stunden vor Tagesanbruch an ihrem Pad mit Versuchen, irgendeine Ordnung hinter der Buchstabenfolge herauszufinden, die Doktor Van Bleeck ihr diktiert hatte. Die Datenbanken des Netzes spuckten Hunderte von Namen aus aller Welt aus – ein Dutzend kam allein aus Ungarn und fast genauso viele aus Thailand –, in denen die meisten der Buchstaben vorkamen, doch keiner stach ihr besonders ins Auge. Aber wenn sie keine besseren Ergebnisse bekommen konnte, mußte sie jeden einzelnen davon kontaktieren.
Sie sah zu, wie ein Entschlüsselungsalgorithmus, den sie von der Hochschulmediathek heruntergeladen hatte, Tausende von Kombinationen zusammenstellte, die für kleinere Abschnitte der Buchstabenfolge paßten, eine schwindelerregende Liste, bei der ihr die Augen weh taten und der Schädel brummte.
Renie rauchte und beobachtete den Bildschirm, wenn sie die nächste Abfrage, die ihr eingefallen war, eingegeben hatte. Das erste Tageslicht stahl sich durch die Ritzen im Dach. Ihr Vater schnarchte selig in seinem Bett, noch immer die Slipper an den Füßen. Irgendwo in der Unterkunft machte ein anderer Frühaufsteher ein Radio an, das Nachrichten in einer asiatischen Sprache brachte, die sie nicht kannte.
Renie war eben im Begriff, !Xabbu anzurufen, von dem sie wußte, daß er mit der Sonne aufstand, und ihm die Sache mit Susan zu erzählen, als ihr plötzlich etwas in die Augen fiel, was ihr bisher entgangen war. Die letzten sechs Buchstaben von Susan Van Bleecks mühseliger Mitteilung: V-R-S-I-H-T. Vorsicht.
Ihr Ärger über ihre verschlafene Blindheit wich rasch einem jähen Schrecken. Die Frau lag im Krankenhaus mit lebensgefährlichen Verletzungen, die ihr möglicherweise von denselben Leuten beigebracht worden waren, denen Renie ins Gehege gekommen war, und trotzdem hatte sie ihrer alten Studentin mit größter Anstrengung etwas eingeschärft, was sich eigentlich von selbst verstand. Susan Van Bleeck war niemand, die Energie verschwendete – zu ihren besten Zeiten nicht und schon gar nicht, wenn ihr jede Bewegung Qualen bereitete.
Renie ließ abermals den Codealgorithmus laufen, diesmal ohne die letzten sechs Buchstaben, und rief dann !Xabbu an. Nach einer Weile ging seine Vermieterin dran, aber ohne das Bild anzuschalten, und erklärte
Weitere Kostenlose Bücher