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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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wegen des langsamen und entspannten Tempos gewählt, das es ihm gestattete, sich für das Treffen zu sammeln. Wenn das ausgedehnte meditative Intermezzo nicht in seinem Sinn gewesen wäre, hätte er sich auch sofort an sein Ziel begeben können.
    Er bewegte abermals die Hand, und schon waren die Massen verschwunden, schneller ins Nichts befördert, als man eine Fliege erschlagen konnte. Nichts als ein paar hohe Palmen war an den Ufern verblieben. Auch die Schwimmer waren fort und die seichten Stellen von allem außer Papyrusdickichten leer. Nur der Steuermann der Barke und die nackten Kinder, die dem Herrn über Leben und Tod mit Straußenfedern Luft zufächelten, waren noch da. Osiris lächelte und wurde ruhiger. Es war angenehm, ein Gott zu sein.
    Als die sanften Geräusche des Wassers seine Nerven beruhigt hatten, richtete er seine Gedanken auf die bevorstehende Zusammenkunft. Er suchte in sich nach Anzeichen von Beklemmung und wunderte sich nicht, mehrere zu finden. Obwohl er das schon so viele Male gemacht hatte, wurde es niemals leichter.
    Er hatte viele verschiedene Möglichkeiten ausprobiert, seine Begegnungen mit dem Andern vorzustrukturieren, immer darauf bedacht, die Interaktion erträglicher zu gestalten. Für ihr erstes formelles Zusammentreffen hatte er eine unscheinbare Bürosimulation geschaffen, farbloser als alles, was ihm in der wirklichen Welt gehörte, und hatte den Andern durch die Persona eines unbedarften jungen Angestellten gefiltert, einen der austauschbaren Niemande, deren Laufbahn und sogar deren Leben er unzählige Male, ohne zu zögern, zerstört hatte. Er hatte gehofft, den Andern dadurch zu einem Objekt von solcher Harmlosigkeit zu machen, daß jedes eigene Unbehagen von vorneherein ausgeschaltet wäre, aber dieses frühe Experiment war gründlich danebengegangen. Die abnormen Eigenschaften des Andern waren dadurch, daß sie sich über die Simulation Ausdruck verschaffen mußten, noch beunruhigender gewesen. Obwohl das Treffen in einer Simwelt stattgefunden hatte, die Osiris gehörte und von ihm kontrolliert wurde, hatte der Andere seinen Avatar auf höchst beängstigende Art verzerrt und gescrämbelt. Trotz seiner ungeheuren Erfahrung hatte Osiris immer noch keine Ahnung, wie der Andere es schaffte, eine komplexe Simulationsapparatur so vollständig außer Kraft zu setzen, zumal er sehr selten den Eindruck machte, überhaupt bei Verstand zu sein.
    Andere Experimente waren nicht besser ausgeschlagen. Der Versuch, ein Treffen in einem nichtvisuellen Raum abzuhalten, hatte nur den Erfolg gehabt, daß Osiris sich in der unendlichen Schwärze mit einem gefährlichen Tier eingesperrt fühlte. Versuche, den Andern auf subtile Weise lächerlich zu machen, waren ebenfalls fehlgeschlagen – ein zeichentrickartiger Simuloid, das Werk von Programmierern der Kindersendung »Onkel Jingle«, hatte sich einfach immer weiter ausgedehnt, bis er die übrige Simulation verdrängt und Osiris so schreckliche Klaustrophobie verursacht hatte, daß er gezwungen gewesen war, offline zu gehen.
    Nein, er wußte jetzt, daß dies die einzige Art war, wie er die unangenehme Aufgabe bewältigen konnte, eine Aufgabe, die die anderen Mitglieder der Bruderschaft nicht einmal versuchen würden. Er mußte den Andern durch seine ureigene und vertrauteste Simulation filtern und die Begegnungen so sehr, wie es überhaupt möglich war, mit einem rituellen Rahmen umgeben, der für Distanz sorgte. Sogar die langsame Fahrt den Fluß hinauf war nötig, damit er sich in dieser Zeit in den Zustand meditativer Ruhe versetzen konnte, den er zu einer sinnvollen Verständigung brauchte.
    Im Grunde war die Vorstellung ziemlich erstaunlich, daß irgend jemand Osiris, dem Oberhaupt der Bruderschaft, Angst machen konnte. Selbst in der normalen Welt war er eine furchteinflößende Erscheinung, ein Mann, der so viel Macht und Einfluß ausübte, daß viele ihn für einen Mythos hielten. Hier in seinem selbsterschaffenen Mikrokosmos war er ein Gott, der größte aller Götter, mit allen Möglichkeiten, die ein solcher Rang mit sich brachte. Wenn er wollte, konnte er mit einem Augenzwinkern ganze Universen vernichten.
    Er hatte diese Fahrt jetzt schon Dutzende Male gemacht, und doch erfüllte ihn die Aussicht auf den schlichten Kontakt mit dem Andern – »Gespräche« konnte man diese Interaktionen nicht nennen – mit einem ähnlichen Schrecken wie damals, als er in seiner ach so weit zurückliegenden Kinderzeit im Bewußtsein seiner Schuld

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