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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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einen Satz vom Bürgersteig mitten auf die Straße, wo sie verwundert feststellte, daß sie dort gehen konnte, ohne auf Autos aufpassen zu müssen. Bei Nacht war alles anders!
    Von der Stillwell Lane bog sie in die Redland Road ab. Sie schnaufte mittlerweile ganz ordentlich und ließ sich deshalb unter den alten hohen Bäumen der Redland Road in ein normales Schrittempo fallen. Sie sah in Herrn Sellars’ Haus keine Lichter brennen, und einen Moment lang fragte sie sich, ob sie etwas falsch gemacht und vielleicht etwas vergessen hatte, was er ihr gesagt hatte. Dann fiel ihr wieder ein, wie ihr Name immer wieder über die MärchenBrille gelaufen war, und sie bekam es mit der Angst zu tun. Sie fing wieder an zu laufen.
    Auf Herrn Sellars’ Veranda war es dunkel, und seine Pflanzen wirkten größer und dicker und fremdartiger als je zuvor. Sie klopfte an, aber niemand kam an die Tür. Sie wollte schon wieder nach Hause laufen, da ging die Tür auf und Herrn Sellars’ kratzige Stimme ertönte von innen. »Christabel? Ich hatte schon meine Zweifel, ob du von zuhause wegkommen würdest. Tritt ein.«
    Herr Sellars saß in seinem Rollstuhl, aber er war damit aus dem Wohnzimmer in den Flur gefahren und streckte ihr eine zitternde Hand entgegen.
    »Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich bin. Komm her, stell dich ein Weilchen an die Heizung. Oh, und zieh die hier an, ja?« Er holte ein Paar dünner, elastischer Handschuhe hervor und reichte sie ihr. Während sie sich bemühte, sie anzuziehen, wendete er seinen Rollstuhl wieder dem Wohnzimmer zu. »Du hinterläßt lieber keine Fingerabdrücke. Alles andere habe ich bereits abgewischt. Aber da plappere ich vor mich hin und denke gar nicht an dich. Frierst du, kleine Christabel? Es ist eine kalte Nacht draußen.«
    »Ich bin eingeschlafen. Ich wollte nicht, aber dann bin ich doch.«
    »Das macht nichts. Wir haben reichlich Zeit, bis es anfängt, hell zu werden. Und es sind nur noch wenige Sachen zu tun übrig.«
    Auf dem kleinen Tisch im Wohnzimmer standen ein Glas Milch und ein Teller mit drei Plätzchen. Herr Sellars deutete mit seinem komischen, schiefen Lächeln darauf.
    »Greif zu. Du wirst ordentlich stark sein müssen.«
     
    »Na gut«, sagte er, während sie am letzten Bissen des letzten Plätzchens kaute, »ich glaube, das ist alles. Verstehst du, was du zu tun hast? Verstehst du es wirklich?«
    Da sie den Mund voll hatte, nickte sie nur.
    »Also, du mußt es genauso machen, wie ich es dir gesagt habe. Es ist sehr gefährlich, Christabel, und ich möchte auf keinen Fall, daß dir etwas zustößt. Wenn es sich irgendwie vermeiden ließe, hätte ich dich überhaupt nie in die Sache hineingezogen.«
    »Aber ich bin deine Freundin«, sagte sie mit dem Mund voller Krümel.
    »Eben drum. Freundschaften nutzt man nicht aus. Aber es ist wirklich furchtbar wichtig, Christabel. Wenn du bloß verstehen könntest, wie wichtig es ist …« Ihm versagte die Stimme. Sie dachte schon, er würde vielleicht einschlafen, aber da gingen seine gelblichen Augen wieder auf. »Ach! Das hätte ich fast vergessen.« Er wühlte in einer Tasche seines Bademantels. »Die ist für dich.«
    Sie guckte ihn an und wußte nicht, was sie sagen sollte. »Aber ich hab schon eine MärchenBrille. Das weißt du doch.«
    »Aber nicht so eine. Du mußt sie mit heimnehmen, wenn wir hier fertig sind, und dann mußt du die andere unbedingt verschwinden lassen – sie irgendwo wegwerfen, wo niemand sie jemals findet. Andernfalls werden deine Eltern wissen wollen, warum du zwei hast.«
    »Ist die denn anders?« Die Brille sah ganz genauso aus, wie sie sie auch drehte und wendete. Sie setzte sie auf, aber sie fühlte sich auch genauso an wie die andere.
    »Das wirst du später schon merken. Morgen, um genau zu sein. Setz sie auf, wenn du von der Schule nach Hause kommst – um wieviel Uhr ist das? Um zwei?«
    Sie nickte. »Vierzehnhundert Stunden, sagt mein Papi dazu.«
    »Gut. Und jetzt müssen wir uns an die Arbeit machen. Aber zuerst spüle bitte das Glas und den Teller ab. Nur zur Vorsicht – ich weiß, du hast die Handschuhe an, aber wir wollen keinerlei unnötige Spuren hinterlassen.«
    Als Christabel fertig war und den Teller und das Glas wieder in den Schrank gestellt hatte, saß Herr Sellars schon im Flur und wartete still auf sie. Mit seinem komischen Kopf und seinem zarten Körper sah er aus wie eine Puppe. »Aha«, sagte er, »Zeit zum Aufbruch. Ich werde dieses Haus vermissen, muß ich sagen. Es

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