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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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gefallen war, dämpfte die Worte, aber seine Stimme kam ihr dennoch wie das Lauteste vor, was sie je gehört hatte. Christabel quiekte, riß die Decke weg und schwenkte die Hände vor seinen Augen, bevor er die Zeit brüllen konnte. Sie kauerte sich im Dunkeln zusammen und lauschte in der Erwartung, jeden Moment ihre Eltern aus dem Bett kommen zu hören.
    Stille.
    Sie wartete noch ein wenig länger, um sicherzugehen, und kroch dann am Boden zu ihrer blinkenden Brille. Sie setzte sie auf und sah die Worte »CHRISTABEL ICH BRAUCHE DICH« vorbeigleiten, wieder und immer wieder. Sie schaltete die Brille an und aus, wie Herr Sellars es ihr das letzte Mal gesagt hatte, aber die Worte »CHRISTABEL ICH BRAUCHE DICH« liefen immer weiter.
    Als sie die Kleider und Schuhe angezogen hatte, die unterm Bett versteckt waren, holte sie ganz langsam, damit die Kleiderbügel nicht klapperten, ihren Mantel aus dem Schrank, machte die Zimmertür auf und trat auf Zehenspitzen in den Flur. Die Schlafzimmertür ihrer Eltern stand einen Spaltbreit offen, deshalb schlich Christabel so leise, wie es überhaupt nur ging, daran vorbei. Ihr Vater schnarchte, snkkk, chrrrwww, snkkk, chrrrwww, genau wie Jakob Jammerlappen immer. Von Mami war kein Laut zu hören, aber Christabel war sich ziemlich sicher, sie erkennen zu können, einen schlafenden Klumpen hinter ihrem Vater.
    Es war eigenartig, wie anders das Haus bei Nacht ohne Beleuchtung aussah. Es wirkte größer und viel, viel gruseliger, als ob es sich in ein ganz anderes Haus verwandeln würde, nachdem alle zu Bett gegangen waren. Und wenn nun, ging es ihr auf einmal durch den Kopf, in ihrem Haus Fremde wohnten? Eine ganze Familie, aber Nachtmenschen, die erst nach Hause kamen, wenn Christabel und ihre Eltern schliefen? Das war ein gräßlicher Gedanke.
    Es gab ein Geräusch, ein leises Bumsen. Vor Schreck eiskalt hielt Christabel sich ganz still, genau wie das Kaninchen, das sie mal in einer Natursendung gesehen hatte, als der Falke drüber weggeflogen war. Einen Augenblick lang dachte sie sogar, es könnten die Nachtbewohner sein, ein großer Mann, ein zorniger Papi – aber nicht ihr Papi – könnte plötzlich aus einer der dunklen Ecken gesprungen kommen und schreien: Wer ist dieses unartige kleine Mädchen? Doch da hörte sie das Geräusch wieder und begriff, daß es bloß die Fensterläden waren, die der Wind draußen an die Fenster stieß. Sie holte tief Atem und eilte durch das große offene Wohnzimmer.
    Als sie in die Küche kam, wo das Licht von der Straßenlaterne durch die Fenster einfiel und alles so komisch und langgezogen erscheinen ließ, mußte sie stehenbleiben und angestrengt nachdenken, um sich an die Zahl der Alarmanlage zu erinnern. Die hatte Mami ihr beigebracht, damit sie sich im Notfall selber aufmachen konnte. Christabel wußte, daß sich um 02:43 nachts heimlich aus dem Haus zu stehlen nicht die Art von Notfall war, die ihre Mutter gemeint hatte – eigentlich war es so ungefähr die schlimmste Schlimme Sache, die Christabel sich vorstellen konnte –, aber sie hatte es Herrn Sellars versprochen, und darum mußte sie. Aber wenn nun böse Männer kamen, während die Alarmanlage abgestellt war, und sich ihre Eltern schnappten und sie fesselten? Dann wäre sie schuld.
    Sie drückte die Zahlen der Reihe nach und legte dann die Hand auf die Platte. Das rote Licht darüber wurde grün. Christabel machte die Tür auf, beschloß dann aber, die Alarmanlage wieder anzustellen, damit keine Einbrecher hereinkommen konnten. Sie trat hinaus in den kalten Wind.
    Die Straße war in einer Weise leer wie tagsüber nie. Die Bäume schwenkten ihre Äste, als ob sie zornig wären, und in fast keinem der Häuser brannte Licht. Sie blieb zögernd stehen. Es war unheimlich, aber irgendwie war es auch toll, toll und aufregend und echt stark, als ob der ganze Stützpunkt nur für sie zum Spielen da wäre. Sie knöpfte sich sorgfältig den Mantel zu. Als sie über den Rasen lief, rutschte sie ein wenig auf dem nassen Gras.
    Christabel lief die Straße entlang, so schnell sie konnte, denn sie war schon spät dran. Ihr Schatten war riesengroß, als sie unter der Straßenlaterne durchkam, und wurde dann immer schwächer, bis er genauso riesig wieder auftauchte, nur hinter ihr, als sie sich der nächsten Laterne näherte. Patsch, patsch, patsch machten ihre Füße auf dem Pflaster, während sie erst die Windicott und dann die Stillwell Lane hinuntereilte. Ein Hund bellte irgendwo, und sie machte

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