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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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ob sie die Otterkönigin wäre. »›Wir, die noch dienen, müd der Welt und Macht und Gier, neigen uns vor dir…‹ Das ist wieder Yeats. So, jetzt vergiß nicht, nach der Schule deine neue MärchenBrille aufzusetzen. Und denk dran, daß du mit dem Auto ganz vorsichtig sein mußt.« Er lachte. »Endlich wird mir das Ding mal zu etwas nutze sein.« Sein Gesicht wurde wieder ernst, und er hob mahnend den Finger. »Paß sehr, sehr gut auf. Mach alles genau so, wie ich es gesagt habe. Weißt du noch das ganze Gedicht?«
    Christabel nickte. Sie sagte es ihm ganz auf.
    »Gut. Vergiß nicht zu warten, bis die Straßenbeleuchtung ausgeht.« Herr Sellars schüttelte den Kopf. »Wenn ich mir vorstelle, daß es so weit kommen mußte – daß ich einmal gezwungen sein würde, zu solchen Mitteln zu greifen! Ich muß dich zur Mittäterin machen, Christabel. Ich habe diesen Plan schon lange gefaßt, aber ohne dich könnte ich ihn nicht ausführen. Eines Tages werde ich dir hoffentlich erklären können, was für eine wichtige Sache du getan hast.« Er erhob seine runzlige Hand. »Sei tapfer. Sei vorsichtig!«
    »Wirst du da unten keine Angst haben?«
    »Nein. Ich werde vielleicht gar nicht sehr weit gehen, aber ich werde frei sein, und das ist mehr, als ich seit langem von mir behaupten kann. Fang jetzt an, kleine Christabel. Schließlich mußt du auch bald nach Hause.«
    Sie winkte ihm zum Abschied. Dann zerrte sie mit Herrn Sellars’ Hilfe von unten die Metallplatte wieder über das Loch, rollte das Gras zurück und klopfte es glatt.
     
»Als allererstes mußt du nun
    Die Stange unters Becken tun …«
     
    Sie nahm die Brechstange mit ins Haus und legte sie unter das Waschbecken, genau wie in dem Gedicht, das Herr Sellars sie hatte auswendig lernen lassen. Sie sagte sich die Verse immer wieder vor – sie mußte an so vieles denken, und sie hatte Angst, irgend etwas falsch zu machen.
    Das steife, eklig riechende Tuchknäuel war im Kanister unter dem Waschbecken, genau wie der alte Mann es gesagt hatte. Sie nahm es, das kleine Plastikding daneben ebenfalls, und ging dann durch die andere Küchentür in die Garage. Durch das Fenster oben in der Tür kam gerade genug Licht, um das Auto erkennen zu können, Herrn Sellars’ Cadillac, der dort im Schatten stand wie ein riesiges Tier. Sie hätte zu gern das Licht angeknipst, wie sie auch gern das Küchenlicht angeknipst hätte – jetzt wo Herr Sellars fort war, wirkte das Haus noch dunkler und fremder als vorhin ihr eigenes Haus –, aber das Gedicht verbot es:
     
»… Und lasse alle Lichter aus.«
     
    Sie rang sich dazu durch, tapfer zu sein, und dachte an den nächsten Teil.
     
»Jetzt öffne das große Garagentor.
    Halt am Küchenschalter die Hand davor…«
     
    Als sie ihre Hand vor dem Sensor am Eingang von der Küche vorbeiführte, glitt das Garagentor auf lautlosen Schienen nach oben. Hinter dem schattenhaften Umriß des Wagens konnte sie an der Straßenlaterne vorbei bis zum Ende des Beekman Court blicken.
    Christabel ging um das Auto herum und sagte dazu weiter Herrn Sellars’ Gedicht auf. Als sie an der Beifahrertür vorbeikam, sah sie im Innern etwas lang auf dem Fahrersitz liegen. Sie erschrak so sehr, daß sie beinahe geschrien hätte, obwohl sie sofort erkannte, daß es bloß ein großer Plastiksack war. Aber auch wenn es nur ein Sack war, fand sie ihn doch unheimlich. Sie eilte weiter zum Heck des Cadillac.
     
»… Ganz klein ist die geheime Tür,
    Versteckt hinter der Nummer vier…«
     
    Die Nummer vier war auf dem Nummernschild des Wagens. Sie zog am Rand, und das ganze Schild klappte herunter. Dahinter war das Loch, wo man etwas in das Auto einfüllte – es war ein Oldtimer, hatte Herr Sellars ihr einmal erklärt, und fuhr nicht mit Elektrizität oder Dampf. Obwohl er gesagt hatte, das Auto habe bei seinem Einzug in das Haus in der Garage gestanden, benahm sich Herr Sellars immer so, wie wenn es ihm gehörte und er stolz darauf war.
    Sie schraubte den Deckel ab, dann rollte sie das dicke Tuch lang, steckte ein Ende in das Loch und schob es tief hinein. Während sie das noch tat, ging hinter ihr plötzlich die Straßenlaterne aus. Es wurde so schnell dunkel, daß es den Eindruck machte, als wären sämtliche Lichter der Welt zur gleichen Zeit erloschen.
    Christabel hielt den Atem an. Sie konnte durch das offene Garagentor den tiefen, tiefen blauen Himmel und die Sterne sehen, deshalb war es gar nicht so gruselig, wie sie zunächst gedacht hatte.

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