Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
ein Phänomen von hoher Komplexität, der ungeheuren Komplexität des Systems. Nicht das erste und höchstwahrscheinlich nicht das letzte und nicht das merkwürdigste.« Er stand ein Weilchen sinnend da, dann wandte er sich wieder Renie und ihren Freunden zu. »Vielleicht sollten wir dieses unbefriedigende Gespräch abkürzen. Es gibt noch viel zu tun.«
»Folter?« Renie wußte, daß sie den Mund halten sollte, aber die Monate des Leids und der Wut ließen sich nicht verdrängen; sie fühlte sich hart und scharf wie eine geschliffene Klinge. »Brandbomben in Wohnungen legen, Kinder ins Koma versetzen und alte Frauen totprügeln ist noch nicht befriedigend genug?«
»Renie …«, begann Martine wieder, aber Atascos zorniger Aufschrei unterbrach sie.
»Es reicht!« Seine Augen waren nur noch schmale Schlitze. »Bist du wahnsinnig oder was? Was bildest du dir ein, in meine Welt zu kommen und solche Beschuldigungen zu erheben?« Er wandte sich an Martine. »Bist du ihre Gouvernante? Wenn ja, dann hast du versagt. Der Affe hat bessere Manieren.«
»Der Affe hat vielleicht mehr Geduld«, sagte Martine leise. »Renie, !Xabbu , ich glaube, wir haben einen Irrtum begangen.«
»Einen Irrtum?« Renie war verwundert. Vielleicht hatte Martine durch ihren traumatischen Eintritt in diese Simwelt eine Art Amnesie erlitten, aber sie ihrerseits erinnerte sich nur zu gut an Atascos Namen.
Auf jeden Fall brauchte sie bloß einen Blick auf dieses arrogante, aristokratische Gesicht zu werfen, das er sich ausgesucht hatte, um alles über ihn zu wissen. »Ich glaube kaum, daß es hier einen Irrtum gibt, höchstens den, daß er meint, wir würden bei alledem auch noch höflich bleiben.«
!Xabbu kletterte auf einen der Stühle und von dort auf den riesigen Tisch. »Eine Frage, Herr Atasco. Warum hast du uns hergeholt?«
Er nahm den redenden Affen kommentarlos hin. »Ich habe euch nicht hergeholt. Ihr seid selber hergekommen, möchte ich meinen.«
»Aber warum?« beharrte !Xabbu . »Du bist der Herrscher über diese bizarre Welt. Warum nimmst du dir die Zeit, mit uns zu sprechen? Was meinst du denn, was wir wollen?«
Atasco zog eine Augenbraue hoch. »Ihr seid hierherbestellt worden. Ich habe demjenigen, der euch herbestellt hat, gestattet, meine Stadt und meinen Palast zu benutzen – der Einfachheit halber und, na ja, weil ich einige seiner Befürchtungen teile.« Er schüttelte den Kopf, als ob das alles auf der Hand läge; seine hohe Federkrone schwankte. »Warum ich mit euch spreche? Ihr seid Gäste. Aus Höflichkeit natürlich – etwas, worauf ihr anscheinend verzichten könnt.«
»Soll das heißen …« Renie mußte kurz innehalten, um zu überlegen, was das überhaupt heißen konnte. »Soll das heißen, daß du uns nicht hergeholt hast, um uns etwas anzutun oder uns zu bedrohen? Daß du nichts mit dem Zustand zu tun hast, in dem sich mein Bruder befindet? Mit den Leuten, die Doktor Susan Van Bleeck umgebracht haben?«
Atasco blickte sie lange an. Das edle Gesicht war immer noch majestätisch herablassend, aber sie spürte ein gewisses Zögern. »Wenn die schrecklichen Taten, von denen du sprichst, der Gralsbruderschaft zur Last gelegt werden können, dann bin ich wohl nicht ganz ohne Schuld«, sagte er schließlich. »Eben deshalb, weil ich befürchte, daß ich unwissentlich zu diesen üblen Machenschaften beigetragen haben könnte, habe ich mein geliebtes Temilún als Versammlungsort zur Verfügung gestellt. Aber ich bin nicht persönlich für die von dir genannten Taten verantwortlich, um Gottes willen, nein.« Er drehte sich um und ließ seinen Blick über den weitläufigen Saal schweifen. »Herrgott, was sind das für seltsame Zeiten! Nur wenige Fremde verirren sich je hierher, und jetzt werden viele kommen. Aber es ist eine Zeit des Wandels, nehme ich an.« Er wandte sich ihnen wieder zu. »Wißt ihr, welcher Tag morgen ist? Vier Bewegung. Wir haben unsere Zeitrechnung von den Azteken übernommen, müßt ihr wissen. Aber es ist ein hochbedeutsamer Tag, das Ende der Fünften Sonne – das Ende eines Zeitalters. Die meisten meines Volkes haben den alten Aberglauben vergessen, aber das liegt natürlich daran, daß es in ihrer Zeit tausend Jahre gedauert hat.«
Ist er verrückt? fragte sich Renie. Ich rede von getöteten und versehrten Menschen, und er redet vom aztekischen Kalender.
»Aber du sagtest, wir wären ›herbestellt‹ worden.« !Xabbu breitete seine langen Arme aus. »Bitte, von wem denn?«
»Da müßt
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