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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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umgebracht.«
    Zum erstenmal wirkte Atasco echt schockiert. »Was? Was soll das heißen?«
    Renie, ergänzt von !Xabbu und Martine, erzählte ihm, was geschehen war. Als sie fertig war, marschierte Atasco schon einige Zeit im Saal auf und ab. »Das ist ja grauenvoll. Seid ihr sicher? Könnte er nicht einfach einen Anfall des Herzens gehabt haben?« Durch die Erschütterung verstärkte sich sein Akzent und wurde sein Englisch ein wenig ungenauer.
    »Es hatte uns alle«, erklärte Renie fest. »Singh sagte, es wäre lebendig, und ich weiß nicht, wie man es sonst beschreiben könnte. Was ist das für ein Ding?«
    »Es ist das neuronale Netzwerk – die Grundlage des Gralsnetzwerksystems. Es wurde zusammen mit den Simulationen herangezüchtet, glaube ich. Ich weiß nicht viel darüber, das war nicht meine Aufgabe. Aber es sollte auf keinen Fall … das ist schrecklich. Wenn es stimmt, was ihr sagt, dann ist Sellars keine Sekunde zu früh dran. Mein Gott! Schrecklich, schrecklich!« Atasco hatte aufgehört, hin und her zu marschieren, und blickte jetzt aufgeregt in die Runde. »Ihr müßt hören, was er zu sagen hat. Ich würde die Sachen nur durcheinander bringen. Aber wie es aussieht, hat er recht – wir haben zu lange in unserer isolierten Privatwelt gelebt.«
    »Erzähle uns von diesem Ort, den du … hast wachsen lassen«, sagte Martine.
    Renie war befremdet. Sie wollte mehr über diesen mysteriösen Sellars hören, über das Ding, das !Xabbu den Allverschlinger genannt hatte, aber Martine zog es offenbar vor, sich von einem reichen Spinner einen Vortrag über sein Hobby halten zu lassen. Sie sah !Xabbu hilfesuchend an, aber der bedachte Atasco gerade mit einem innigen und aufmerksamen Blick, der auf dem Gesicht eines Pavians besonders widerlich wirkte. Sie gab einen leisen Ton der Mißbilligung von sich.
    »Temilún?« Das Gesicht ihres Gastgebers hellte sich ein wenig auf. »Aber natürlich. Ihr seid von Aracatacá gekommen, nicht wahr? Aus dem Wald. Was hattet ihr für einen Eindruck von den Menschen, die ihr gesehen habt? Waren sie glücklich? Gut ernährt?«
    Renie zuckte mit den Achseln. »Ja. Sah so aus.«
    »Und nicht ein Wort Spanisch. Keine Priester – na ja, heutzutage ein paar aus Übersee, aber sie tun sich schwer, Leute in ihre fremdartigen und ungewohnten Kirchen hineinzubringen. Jedenfalls kein nennenswerter Katholizismus. Und alles wegen der Pferde.«
    Renie sah !Xabbu an, doch der blickte ebenfalls verwirrt. »Pferde?« fragte sie.
    »Oh, es ist höchst elementar, verehrte … wie war noch dein Name?«
    Renie zögerte. Wer A sagt, muß auch B sagen, entschied sie. Wenn er das alles vorspiegelt, dann stecken uns diese Leute noch lässiger in die Tasche, als wir dachten. Und wenn die Gralsbruderschaft ihren Wohnblock anzünden und Jeremiahs Kredkarten sperren lassen konnte, dann war ihr Name vermutlich auch niemandem verborgen. »Irene Sulaweyo. Renie.«
    »… Elementar, verehrte Irene.« Offensichtlich war dies eines seiner Lieblingsthemen, denn Atasco schien seine frühere Antipathie völlig vergessen zu haben. »Pferde. Das einzige, was Amerika fehlte. Das Urpferd, nicht wahr, starb hier aus – ›hier‹, das heißt in meiner Heimat im realen Leben, aber nicht in der Welt von Temilún. Als die großen Reiche Altamerikas in der wirklichen Welt entstanden – die Reiche der Tolteken, Azteken, Mayas, Inkas, unserer Muiscas hier –, da hatten sie etliche Nachteile, wie sie die Zivilisationen des Tigristales oder des Mittelmeerraumes nicht hatten: langsamere Verkehrsverbindungen, keine großen Wagen oder Schlitten, da es keine starken Zugtiere gab, weniger Bedarf an breiten, ebenen Straßen, daher weniger Druck, das Rad zu erfinden, und so weiter.« Er fing wieder an, hin und her zu marschieren, aber diesmal energisch beschwingt. »In der wirklichen Welt kamen die Spanier nach Amerika und fanden es pflückreif vor. Nur ein paar hundert Männer mit Gewehren und Pferden unterwarfen sich zwei Kontinente. Das muß man sich mal vorstellen! Also habe ich Amerika ein zweites Mal geschaffen. Aber diesmal starb das Pferd nicht aus.« Er nahm seine gefiederte Krone ab und stellte sie auf den Tisch. »Alles verlief hier anders. In der von mir erfundenen Welt bauten die Azteken und andere Völker schon zu einem früheren Zeitpunkt viel ausgedehntere Reiche, und nachdem Handelsschiffe aus Altphönizien bei ihnen gelandet waren, traten sie über die Meeresstraßen mit anderen Zivilisationen in Kontakt. Als das

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