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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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wegtreiben.«
    Es war schwer zu entscheiden, was mehr Energie kosten würde, zu streiten oder zu paddeln. Orlando machte sich an die Arbeit.
    Seine Arme waren schlaff und schwach wie Nudeln, aber die eintönige Tätigkeit, das Paddel einzutauchen, durchzuziehen, hochzuheben und wieder einzutauchen, hatte etwas Beruhigendes. Nach einer Weile versetzte ihn die Monotonie im Verein mit den tanzenden Reflexionen der Sonne und seinen Fieberdelirien in eine Art Traumzustand, so daß er das Steigen des Wassers erst bemerkte, als Fredericks aufschrie, sie würden sinken.
    Wachgerüttelt, aber immer noch abgepuffert von seiner träumerischen Entrücktheit blickte Orlando auf das Wasser, das jetzt bis zum Schritt über seinen Lendenschurz schwappte. Die Mitte des Floßes war gesunken, oder die Seiten waren gestiegen; jedenfalls war das Transportmittel mittlerweile zum größten Teil unter Wasser.
    »Was sollen wir tun?« Fredericks klang wie jemand, der glaubte, daß das alles noch einen Wert hatte.
    »Tun? Sinken, nehme ich an.«
    »Bist du jetzt völlig abgescännt, Gardiner?« Fredericks, der sichtlich gegen die Panik ankämpfte, schaute zum Horizont. »Eventuell können wir den restlichen Weg schwimmen.«
    Orlando folgte seinem Blick und lachte. »Du scännst wohl! Ich kann kaum paddeln.« Er betrachtete das gespaltene Schilfrohr in seiner Hand. »Viel nützen tut’s uns eh nicht mehr.« Er warf das Paddel weg. Es spritzte ins Wasser und ploppte wieder an die Oberfläche, wo es sich weitaus vertrauenerweckender auf den Wellen wiegte als das Floß.
    Fredericks schrie erschrocken auf und streckte sich danach, als könnte er den Vorgang umkehren und es durch die Luft zurückholen. »Ich faß es nicht! Warum hast du das gemacht?« Voll hektischer, entsetzter Energie nahm er wieder das Floß in Augenschein. »Ich hab eine Idee. Wir gehen ins Wasser, aber wir nehmen das Floß zum Festhalten – du weißt schon, wie die Bojen im Schwimmkurs.«
    Orlando hatte nie einen Schwimmkurs oder sonst etwas besucht, wovon seine Mutter befürchtete, es könnte seinen brüchigen Knochen schaden, aber ihm war nicht nach Streiten zumute. Auf das Drängen seines Freundes hin glitt er vom Floß ins kühle Wasser. Fredericks sprang neben ihm hinein, stemmte sich dann mit der Brust gegen die herunterhängende Kante des Floßes und fing in einer Art und Weise zu strampeln an, die seinen früheren Lehrern alle Ehre machte.
    »Kannst du nicht auch treten, wenigstens ein bißchen?« keuchte er.
    »Das mach ich schon«, entgegnete Orlando.
    »Was ist bloß mit der ganzen Thargorkraft passiert?« japste Fredericks. »Dem ganzen Drachentötermumm? Komm schon!«
    Selbst Erklärungen abzugeben, war anstrengend, und gelegentliche Salzwasserladungen im Mund machten die Sache nicht besser. »Ich bin krank, Frederico. Und vielleicht ist die Verstärkung in diesem System nicht so hoch, wie ich’s gewohnt bin – ich mußte immer schon die Taktorenoutputs sauhoch stellen, damit es so gut funktionierte wie bei jemand Normalem.«
    Sie hatten erst wenige Minuten gestrampelt, als Orlando spürte, wie seine Kräfte ihn endgültig verließen. Seine Beine bewegten sich langsamer, dann gar nicht mehr. Er hielt sich hinten am Floß fest, doch selbst das fiel ihm schwer.
    »Orlando? Ich brauch deine Hilfe!«
    Die Stadt, die vorher direkt vor ihnen gelegen hatte, war inzwischen nach rechts gewandert. Das Stück blaues Wasser zwischen dem Floß und dem Strand jedoch war nicht merklich schmaler geworden. Sie trieben aufs Meer hinaus, begriff Orlando, so wie er auch innerlich abtrieb. Sie würden immer weiter vom Land abkommen, bis die Stadt zuletzt gänzlich verschwunden wäre.
    Aber das ist nicht fair. Die Gedanken schienen in langsamen Stößen zu kommen, genau wie die Wellen. Fredericks will leben. Er will Fußball spielen und Sachen unternehmen – will ein richtiger Junge sein, genau wie Pinocchio. Und ich hindere ihn bloß daran. Ich bin der Junge von der Schlaraffeninsel.
    »Orlando?«
    Nein, nicht fair. Er muß so fest treten, um auch mein Gewicht zu schieben. Nicht fair…
    Er ließ los und glitt unter Wasser. Es war erstaunlich einfach. Die Oberfläche schloß sich über ihm wie ein Augenlid, und einen Augenblick lang empfand er vollkommene Schwerelosigkeit, vollkommene Entspanntheit und eine gewisse dumpfe Selbstzufriedenheit über seinen Entschluß. Da wurde er an den Haaren gepackt und so heftig nach oben gezerrt, daß ein feuriger Schmerz ihn durchfuhr und er

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