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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Schießpulver aus dem Fernen Osten in den Vorderen Orient und nach Westeuropa gelangte, brachten die Schiffe des Tlatoani – des aztekischen Kaisers, wenn du so willst – es auch mit nach Amerika.«
    »Aber … diese Leute haben Mobiltelefone!« Gegen ihren Willen wurde Renie in Atascos Phantasiewelt hineingezogen. »Wie alt ist diese Zivilisation?«
    »Diese Simulation ist nur wenig hinter der realen Welt zurück. Wenn es außerhalb dieses Palastes auf der anderen Seite des Ozeans ein wirkliches Europa gäbe, befände es sich am Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Aber Christus und der westliche Kalender sind niemals hierhergelangt, und deshalb nennen wir diesen Tag Vier Bewegung in der Fünften Sonne, obwohl das Aztekenreich vor langer Zeit unterging.« Er lächelte voll kindlicher Freude.
    »Aber genau das verstehe ich nicht. Wie kann es sein, daß du irgendwann in der Eiszeit, oder was weiß ich, wann, angefangen hast und jetzt in der Gegenwart bist? Willst du mir erzählen, daß du dieses Ding seit sowas wie zehntausend Jahren beobachtest?«
    »Ah, ich verstehe. Doch, allerdings.« Das gleiche selbstzufriedene Lächeln. »Aber nicht alles in der regulären Geschwindigkeit. Es gibt eine Makroebene, auf der die Jahrhunderte nur so vorbeirauschen und ich Daten nur in großen, allgemeinen Klumpen sammeln kann, aber wenn ich wirklich etwas verstehen will, kann ich die Simulation auf das normale Tempo drosseln oder sie sogar anhalten.«
    »Du spielst Gott, mit anderen Worten.«
    »Aber wie konntest du jeden einzelnen dieser Leute erschaffen?« fragte !Xabbu . »Man würde für jeden doch bestimmt ziemlich lange brauchen.« Er klang ehrlich interessiert; Renie dachte zunächst, er wollte verhindern, daß sie ihren Gastgeber weiter gegen sich aufbrachte, aber dann fiel ihr das heißersehnte eigene Ziel des Buschmanns ein.
    »In einem System wie diesem erschafft man keine Individuen«, erklärte Temilúns Gottkönig. »Jedenfalls nicht jeden einzeln. Diese Simulation ist gewachsen – genau wie alle anderen in diesem gesamten Netzwerk. Die Lebenseinheiten beginnen als simple Automaten, Organismen mit sehr elementaren Regeln, aber je mehr man ihnen gestattet, zu interagieren, sich anzupassen und sich zu entwickeln, um so komplexer werden sie.« Seine Geste schloß ihn selbst und die anderen drei ein. »Wie es für das Leben überhaupt gilt. Aber wenn unsere Automaten eine bestimmte Komplexitätsstufe erreichen, können wir gewissermaßen die rauhen Kanten abfeilen und haben dann eine Art fraktalen Samen für eine künstliche Pflanze oder ein künstliches Tier – oder sogar für einen künstlichen Menschen –, der sich so auswächst, wie seine individuellen Erbanlagen und Umweltbedingungen es diktieren.«
    »Das ist so ziemlich das gleiche, was im Netz ohnehin läuft«, sagte Renie. »Alle großen VR-Installationen basieren in der einen oder andern Form auf Datenökologien.«
    »Ja, aber sie haben nicht die Leistungsstärke, über die wir verfügen.« Er schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Sie haben nicht das Potential zur Komplexität, zu ausgeprägter Individualität. Aber das wißt ihr inzwischen, nicht wahr? Ihr habt Temilún gesehen. Ist es in seiner Mannigfaltigkeit nicht so lebensecht, so authentisch wie jeder beliebige Ort in der wirklichen Welt, den ihr kennt? Das bringt man im Netz nicht zustande, einerlei wieviel Geld und Mühe man hineinsteckt. Die Plattform wird es nicht tragen.«
    »Schon, aber die Sicherheitssysteme im Netz bringen auch niemand um.«
    Atascos Gesicht mit den hohen Backenknochen wurde zornrot, aber gleich darauf nahm es einen eher betrübten Ausdruck an. »Ich kann keine Verteidigung vorbringen. Ich habe so lange nur die Ergebnisse beobachtet, daß ich, fürchte ich, den Preis übersehen habe, den die Sache fordert.«
    »Aber was ist dieser Ort eigentlich? Ein Kunstprojekt, ein wissenschaftliches Experiment – was?«
    »Alles zusammen, würde ich meinen …« Atasco unterbrach sich und blickte über ihre Schultern hinweg. »Entschuldigt mich einen Moment.«
    Er ging an ihnen vorbei um den Tisch herum. Die große Tür am anderen Ende des Saales war aufgegangen, und die Wachen brachten drei weitere Personen herein. Zwei davon hatten weibliche Körper, die dem Martines glichen, dunkelhäutig und schwarzhaarig wie die einheimische Bevölkerung von Temilún. Die dritte war eine sehr hochgewachsene Gestalt, von Kopf bis Fuß in einem extravaganten, auffälligen schwarzen Kostüm.

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