Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
genauso bewegungslos geworden wie ihr Mann. Sellars starrte erst sie an, darauf Martine und verschwand dann wie eine geplatzte Seifenblase.
Mit !Xabbus Hilfe hievte Renie die Französin auf einen Stuhl und versuchte von ihr zu erfahren, was passiert war. Martine hörte auf zu schreien, aber konnte nur stöhnen und sich hin und her wiegen.
Die Versammlung war in ängstlicher Verwirrung auseinandergelaufen. !Xabbu redete rasch, aber leise in Martines Ohr. Quan Li fragte Renie, ob sie helfen könne. Der Goggleboy und Sweet William stritten heftig. Sellars war fort. Die regungslosen Gestalten der Atascos standen am Kopfende des Tisches.
Aber auf einmal rührte sich Bolívar Atasco.
»Seht!« rief Renie und deutete mit dem Finger auf ihn.
Die Figur mit der Federkrone streckte ganz weit die Arme aus und beugte krampfartig die Finger. Sie tat einen torkelnden Schritt nach vorn, dann lehnte sie sich unsicher an den Tisch wie ein Blinder. Der Kopf sank auf die Brust. Alle Gäste verstummten, die Augen gespannt auf Atasco gerichtet. Der Kopf kam wieder hoch.
»Ich hoffe, keiner von euch denkt daran abzuhauen.« Es war nicht Atascos Stimme, sondern die eines ganz anderen, eine Stimme ohne jede Wärme, mit breiten, klanglosen Vokalen. Sogar der Gesichtsausdruck war minimal anders. »Ein Fluchtversuch wäre eine ausgesprochen dumme Idee.«
Das Wesen, das sich des Sims von Atasco bemächtigt hatte, wandte sich der erstarrten Form von Silviana Atasco zu. Es versetzte ihr einen leichten Schubs, und ihr Sim stürzte vom Stuhl auf den Steinboden, ohne die steife Sitzhaltung aufzugeben.
»Ich fürchte, die Atascos mußten uns frühzeitig verlassen«, sagte die kalte Stimme. »Aber keine Bange. Wir denken uns was aus, um euch weiter gut zu unterhalten.«
Kapitel
Die singende Harfe
NETFEED/PRIVATANZEIGEN:
Gesucht: Gesprächspartner
(Bild: InserentIn M.J., Asex-Standardsim)
M.J.: »He, ich wollt bloß mal hören, ob irgendwer da draußen ist. Hat irgendwer Lust, sich zu unterhalten? Ich fühl mich halt, na ja, einsam und hab gedacht, vielleicht fühlt sich noch jemand da draußen einsam …«
> Er hatte sich den Kopf angestoßen, was es schwer machte, an etwas anderes zu denken. Er fiel, und der Große Kanal sprang und wirbelte auf ihn zu. Auf einmal spürte Paul über den Schmerz und die funkelnde Dunkelheit hinweg, wie die Welt sich mit einem gewaltigen Ruck, der ihn zu durchpeitschen und in Stücke zu schlagen schien, seitlich verschob.
Einen Augenblick lang hielt alles an. Alles. Das Universum lag in einem unmöglichen Winkel in der Kippe, unter ihm der Himmel wie eine Schüssel aus blauem Nichts, die rote Erde und das Wasser über seinem Kopf schräg in die Ferne laufend. Gally hing festgefroren im Raum, der kleine Körper ganz verzerrt und die Hände weit von sich geschleudert, so daß eine davon Pauls Finger berührte. Pauls anderer Arm war über seinem Kopf bis zum Handgelenk im glasigen Wasser des unbewegten Kanals versunken; ein erstarrter Spritzer stand manschettenartig am Unterarm hoch.
Es ist… alles… stehengeblieben, dachte Paul. Plötzlich brannte ein großes Licht durch alles, was er sah, ließ es in Nichts aufgehen, und er fiel wieder.
Einen Moment Finsternis, den nächsten blendende Helle – Finsternis, Helle, Finsternis in immer schneller werdendem stroboskopischen Wechsel. Er fiel durch etwas hindurch, fiel irgendwo dazwischen. Er spürte Gally ganz knapp außer Reichweite, spürte das Entsetzen des Jungen, aber war machtlos, es irgendwie zu lindern.
Dann hatte er urplötzlich wieder festen Boden unter sich, war auf Händen und Knien auf kaltem, hartem Stein.
Paul blickte auf. Eine weiße Wand erstreckte sich vor ihm, leer bis auf ein riesiges rotschwarzgoldenes Banner. Einem Kelch entwuchsen verschlungene Rosen. Eine Krone schwebte darüber, unter der in kunstvollen Lettern »Ad Aeternum« geschrieben stand.
»Ich … war hier schon mal.« Obwohl er nur murmelte, lösten die langsamen, erstaunten Worte kleine Echos an der hohen Decke aus. Seine Augen füllten sich mit Tränen.
Es war nicht nur das Banner, nicht nur das zunehmende Gefühl von Vertrautheit. Noch andere Gedanken überschwemmten ihn, Bilder, Empfindungen, die auf die ausgedörrte Erde seines Gedächtnisses fielen wie ein erfrischender Regen.
Ich heiße … Paul Jonas. Ich bin … ich bin in Surrey geboren. Mein Vater heißt Andrew. Meine Mutter heißt Nell und sie ist sehr krank.
Die Erinnerung faßte an ehemals leeren
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