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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Mbinda schaut aus einer Pappkartonbude heraus)
    Mbinda: »Die Straße ist um uns, sie ist in uns. Man kann sie nicht ignorieren.«
     
     
    > Ihr Atem war wie Zimt. Ihre langfingrige Hand auf seiner Brust schien nicht mehr als ein Blatt zu wiegen. Er hielt die Augen geschlossen aus Angst, wenn er sie öffnete, würde sie verschwinden wie so viele Male zuvor.
    »Hast du vergessen?« Ein Flüstern, zart und süß wie Vogelsang in einem fernen Hain.
    »Nein, ich habe nicht vergessen.«
    »Dann komm zu uns zurück, Paul. Komm zu uns zurück.«
    Ihre Traurigkeit überschwemmte ihn, und er hob die Arme, um sie an sich zu drücken. »Ich habe nicht vergessen«, sagte er. »Ich habe nicht…«
    Explosionsdonner riß Paul Jonas in die Höhe. Eine der deutschen 28-cm-Haubitzen war brüllend zum Leben erwacht. Die Erde bebte erbost, und das Grabengebälk ächzte, als die ersten Granaten eine Viertelmeile entfernt Löcher in die Linie rissen. Leuchtkugeln flogen über den Himmel und ließen die Geschoßspuren rot erstrahlen. Ein Sprühregen spritzte über Pauls Gesicht. Seine Arme waren leer.
    »Ich habe nicht …«, sagte er benommen. Er hielt die Hände ausgestreckt und starrte den grell erleuchteten Schlamm an, der sie bedeckte.
    »Was hast du nicht?« Finch kauerte einen Meter neben ihm und schrieb einen Brief nach Hause. Seine Brillengläser flackerten glutrot, als er sich Paul zuwandte. »Schön geträumt, ja? War sie hübsch?« Sein bohrender Blick strafte seinen lockeren Ton Lügen.
    Paul schaute verlegen zur Seite. Warum starrte ihn sein Kamerad so an? Es war doch bloß ein Traum gewesen, oder? Einer von den Träumen, die ihm so hartnäckig zusetzten. Eine Frau, ein kummervoller Engel…
    Bin ich dabei, verrückt zu werden? Starrt Finch mich deshalb so an?
    Er setzte sich auf und verzog das Gesicht. Eine Pfütze hatte sich während des Schlafs unter seinen Stiefeln gebildet und seine Füße durchnäßt. Wenn er nichts machte, würde er Schützengrabenfüße bekommen. Schlimm genug, daß Leute, die man nicht kannte und nicht sah, einen mit explodierenden Metallsplittern überschütteten, da mußte man nicht auch noch zuschauen, wie einem die eigenen Extremitäten abfaulten. Er zog seine Stiefel aus und schob sie an den winzigen Gaskocher, die Laschen runtergezogen, damit sie schneller trockneten.
    Aber schneller als niemals kann immer noch unheimlich langsam sein, dachte er. Die Feuchtigkeit war ein noch hartnäckigerer Feind als die Deutschen. Sie machte nicht einen Abend Pause, um Weihnachten oder Ostern zu feiern, und alle Geschütze und Bomben, die die Fünfte Armee aufzubieten hatte, konnten sie nicht umbringen. Sie kam einfach angekrochen, füllte Gräben, Gräber, Stiefel… füllte Menschen.
    Schützengrabenseele. Wenn alles, was einen zum Menschen macht, schwärt und abstirbt.
    Seine Füße sahen bleich aus wie abgehäutete Tiere, rissig und weich; an den Zehen, wo das Blut nicht richtig zirkulierte, waren sie blau angelaufen. Er beugte sich vor, um sie zu reiben, und stellte mit einer Mischung aus abstraktem Interesse und stillem Entsetzen fest, das er weder die Zehen fühlen konnte noch die Finger, die sie drückten. »Welcher Tag ist heute?« fragte er.
    Überrascht von der Frage blickte Finch auf. »Hol’s der Henker, Jonesie, woher soll ich das wissen? Frag Mullett. Er zählt die Tage, weil er bald Heimaturlaub hat.«
    Hinter Finch erhob sich Mulletts massige Gestalt, ein am Wasserloch aufgestörtes Nashorn. Sein kurzgeschorener Schädel drehte sich langsam zu Paul um. »Was willst du?«
    »Ich hab bloß gefragt, welcher Tag heute ist.« Das Bombardement hatte kurz einmal ausgesetzt, und seine Stimme klang unnatürlich laut.
    Mullett schnitt ein Gesicht, als ob Paul ihn die Entfernung zum Mond in Seemeilen gefragt hätte. »Der zwanzigste März doch, oder? Noch sechsunddreißig Tage, bis ich heim nach Blighty komm. Was kümmert dich das, zum Teufel?«
    Paul schüttelte den Kopf. Manchmal machte es den Eindruck, als wäre es schon immer März 1918 gewesen, als hätte er schon immer mit Mullett und Finch und dem mürrischen Rest des Siebten Korps in diesem Schützengraben gehaust.
    »Jonesie hat wieder diesen Traum gehabt«, sagte Finch. Er und Mullett wechselten einen kurzen Blick. Sie dachten wirklich, daß er verrückt wurde, da war sich Paul sicher. »Wer war sie, Jonesie – die kleine Kellnerin aus dem Estaminet? Oder Madame Entroyers kleine Madeleine?« Er spuckte die Namen mit seiner üblichen

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