Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
gewöhnlich. »Wir sprachen vorher einmal von der Medizintrance«, sagte er. »Mir war, als würde ich gerade eine miterleben. Er sah aus wie jemand, der den Göttern begegnet.«
»Das war keine Trance, verdammt, und es waren keine Götter im Spiel. Das war ein epileptischer Anfall, wie er im Buche steht.« Renie achtete normalerweise darauf, nicht auf den religiösen oder sonstigen Empfindungen anderer Menschen herumzutrampeln, aber gerade jetzt konnte sie für die okkulten Vorstellungen ihres Freundes sehr wenig Geduld aufbringen. !Xabbu , den das offenbar nicht verletzte, beobachtete sie, als sie aufstand und vor Wut und Erregung völlig außer sich hin und her tigerte. »Irgendwas hat das Gehirn dieses Jungen beeinflußt. Eine physische Nachwirkung in der wirklichen Welt von etwas, was online geschehen ist.« Sie ging zur Bürotür und stieß sie zu: Sokis Kollaps hatte ihren Eindruck verstärkt, von einer namenlosen Gefahr überschattet zu sein. Ein vorsichtigerer Teil von ihr gab zu bedenken, daß sie viel zu schnell Schlüsse zog und jede Menge unbewiesene Thesen aufstellte, aber im Augenblick wollte sie nicht auf diesen Teil hören.
Sie wandte sich wieder !Xabbu zu. »Ich werde dort hingehen. Ich muß.«
»Wohin? In den Inneren Distrikt?«
»In diesen Club – Mister J’s. Irgendwas ist da mit Soki passiert. Ich bin fast sicher, daß Stephen versucht hat, sich nochmal da einzuschleichen, als er bei Eddie wohnte.«
»Wenn dort etwas Schlimmes ist, etwas Gefährliches …« !Xabbu schüttelte den Kopf. »Welchen Sinn sollte das haben? Was hätten die Leute davon, denen dieser virtuelle Club gehört?«
»Es kann eine Begleiterscheinung einer ihrer widerlichen kleinen Lustbarkeiten sein. Eddie meinte, sie bieten angeblich weitergehende Erfahrungen an, als die Geräte der User eigentlich hergeben. Vielleicht haben sie eine Möglichkeit entwickelt, die Illusion umfassenderer sinnlicher Empfindungsfähigkeit zu erzeugen. Sie könnten mit komprimierten unterschwelligen Einflüssen oder Ultraschall arbeiten, mit irgend etwas illegalem, das diese schrecklichen Nebenwirkungen hat.« Sie setzte sich hin und durchwühlte den Papierberg auf ihrem Schreibtisch nach einem Aschenbecher. »Was es auch sein mag, wenn ich es rausfinden will, muß ich die Sache selbst in die Hand nehmen. Es würde ewig dauern, offizielle Stellen zu Ermittlungen zu bewegen – UNComm ist die schlimmste Bürokratie der Welt.« Sie fand den Aschenbecher, aber ihre Hände zitterten dermaßen, daß sie ihn beinahe fallengelassen hätte.
»Aber begibst du dich damit nicht in Gefahr? Was ist, wenn es dich genauso trifft wie deinen Bruder?« Die normalerweise glatte Stirn des kleinen Mannes waren von tiefen Sorgenfalten zerfurcht.
»Ich werde viel wachsamer sein als Stephen, und viel besser informiert. Außerdem will ich mich lediglich nach möglichen Ursachen umschauen – so viel zusammentragen, daß ich mit dem Fall zu den Behörden gehen kann.« Sie zerstampfte ihre Zigarette. »Und wenn ich die Hintergründe aufdecken kann, vielleicht finden wir dann auch einen Weg, die Wirkung aufzuheben.« Sie schloß die Hände zu Fäusten. »Ich will meinen Bruder wiederhaben.«
»Du bist also fest entschlossen.«
Sie nickte und langte nach ihrem Pad. Ein starkes und sogar leicht schwindelndes Gefühl der Klarheit erfüllte sie. Es gab viel zu tun – zunächst einmal mußte sie sich eine Tarnidentität zulegen: Wenn die Leute, denen der Club gehörte, etwas zu verbergen hatten, dann wäre sie schön dumm, wenn sie unter ihrem eigenen Namen und Index da hineinspazierte. Und sie wollte noch mehr über den Club und die Firma, der er gehörte, in Erfahrung bringen. Alles, was sie vorher herauskriegen konnte, erhöhte ihre Chancen, brauchbare Indizien als solche zu erkennen, wenn sie einmal drin war.
»Dann solltest du nicht ohne Begleitung gehen«, sagte !Xabbu leise.
»Aber ich … Moment mal. Meinst du dich damit? Daß du mitkommst?«
»Du brauchst einen Gefährten. Was ist, wenn dir etwas zustößt? Wer wird dann mit deiner Geschichte zur Polizei gehen?«
»Ich hinterlasse ein paar Zeilen, einen Brief. Nein, !Xabbu , das geht nicht.« Ihr Motor lief jetzt. Sie war startbereit, und dies erschien ihr als Ablenkung. Sie wollte den kleinen Mann nicht mitnehmen. Zum Beispiel mußte ihr Eintritt illegal erfolgen; wenn man sie erwischte, würde die Tatsache, daß sie einen Studenten in die Sache hineingezogen hatte, eher als erschwerend bewertet
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