Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
werden.
»Die Prüfungen fangen in zwei Tagen an.« !Xabbu schien ihre Gedanken zu ahnen. »Danach werde ich nicht mehr dein Student sein.«
»Es ist illegal.«
»Es bestünde der Eindruck, ich hätte als Neuling in der Großstadt, der sich mit der modernen Welt nicht auskennt, nicht gewußt, daß ich etwas Unrechtes tat. Wenn nötig, würde ich diesen Eindruck unterstützen.«
»Aber du wirst deine eigenen Verpflichtungen haben!«
!Xabbu lächelte traurig. »Eines Tages, Renie, werde ich dir von meinen Verpflichtungen erzählen. Aber im Moment habe ich unbedingt eine Verpflichtung gegenüber einer Freundin, und die ist mir sehr wichtig. Bitte, tu mir den Gefallen und warte, bis die Prüfungen vorbei sind. Das wird dir auf jeden Fall Zeit geben, dich vorzubereiten. Ich bin sicher, daß es noch mehr Fragen zu stellen gibt, bevor du diesen Leuten direkt entgegentreten solltest, noch mehr Antworten zu suchen.«
Renie zögerte. Er hatte recht. Zumindest ein paar Tage Vorbereitung würde sie ohnehin in ihre Terminplanung einquetschen müssen. Aber wäre er ein Aktiv- oder ein Passivposten? !Xabbu erwiderte ihren Blick ganz unbefangen. Trotz seiner Jugend und seiner Kleinwüchsigkeit hatte der Buschmann etwas nachgerade Ehrfurchtgebietendes an sich. Seine Ruhe und Zuversicht waren sehr überzeugend.
»Okay«, sagte sie schließlich. Sich in Geduld zu fassen, bedurfte einer gewaltigen Willensanstrengung. »Wenn Stephens Zustand sich nicht verschlechtert, werde ich noch warten. Aber wenn du mitkommst, mußt du tun, was ich sage, solange wir da drin sind. Ist das klar? Du bist sehr begabt für einen Anfänger – aber du bist ein Anfänger.«
!Xabbus Lächeln wurde breiter. »Ja, Frau Dozentin. Versprochen.«
»Dann scher dich aus meinem Büro raus und pauk für die Prüfung. Ich hab zu arbeiten.«
Er machte eine leichte Verbeugung und schloß beim Hinausgehen leise die Tür. Der schwache Luftzug wirbelte den noch verbliebenen Zigarettenrauch auf. Renie sah zu, wie er durch das vom Fenster kommende Licht trieb, ein Strudel sinnloser, ständig wechselnder Muster.
> In der Nacht hatte sie wieder den Traum. !Xabbu stand am Rand eines tiefen Abgrunds und schaute auf eine Taschenuhr. Diesmal hatte sie Beine bekommen und spazierte ihm über die offene Hand wie ein flacher silberner Käfer.
Irgend etwas schwebte jenseits der Felsenkante in der Luft, kam im Schutz des Nebels näher. Es war ein Vogel, dachte sie, als sie die Schwingen erblickte. Nein, es war ein Engel, eine schimmernde rauchblaue Erscheinung mit einem menschlichen Gesicht.
Es war Stephens Gesicht. Beim Heransegeln rief er ihr etwas zu, aber seine Stimme wurde vom Brausen des Windes übertönt. Sie schrie auf und erschreckte damit !Xabbu , der sich umdrehte und einen Schritt nach hinten machte. Er stürzte über den Rand und war fort.
Stephen blickte in die Tiefe, dem kleinen Mann hinterher, und richtete dann seine tränennassen Augen auf Renie. Sein Mund bewegte sich wieder, aber sie konnte ihn immer noch nicht hören. Ein Windstoß schien ihn zu erfassen, der seine Flügel ausspannte und ihn von Kopf bis Fuß durchschauerte. Bevor Renie sich rühren konnte, wurde er in den Nebel hinausgetragen.
Kapitel
Dread
NETFEED/NACHRICHTEN:
Polizei erschießt 22 Anhänger der Kannibalensekte
(Bild: vor einem Gebäude werden Leichensäcke ausgelegt)
Off-Stimme: Bei einem Feuergefecht mit der griechischen Militärpolizei, das das Zentrum von Naxos in ein Kriegsgebiet verwandelte, kamen 22 Mitglieder der umstrittenen Sekte der »Anthropophagen« ums Leben, denen ritueller Kannibalismus nachgesagt wird. Ein Polizist wurde bei dem heftigen Schußwechsel getötet, zwei weitere wurden verletzt.
(Bild: bärtiger Mann, der einen Knochen hochhält und auf eine Zuhörermenge einschreit)
Bis zur Identifizierung der zum Teil stark verbrannten Leichen bleibt weiterhin unklar, ob der Anführer der Gruppe Dimitrios Chrisostomos — hier in Aufnahmen zu sehen, die heimlich von einem Informanten der Polizei gemacht wurden — sich unter denen befindet, die bei dem Angriff auf den Temenos getötet wurden …
> Ihm gefiel die Art, wie er sich bewegte – weite, federnde Schritte, wie ein Leopard kurz vor dem Sprung. Er stellte lauter, und die bummernden Trommeln waren überall. Er fühlte sich gut. Der Soundtrack, der auf seinem inneren System lief, machte das Ganze … perfekt.
Kamera, Kamera, dachte er, die Augen an die Frau geheftet. Was für ein Hintern!
Weitere Kostenlose Bücher