Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
dieses Mädchen verschwand. Und ich glaube, ich weiß, wer es war.«
Dread rollte den Simkörper herum, die Muskeln locker und bereit. »O nein!« Er hoffte, daß er den richtigen Ton traf, der nach geflüstertem Erschrecken klang. »Heißt das, du denkst, daß … daß einer von uns … ein Mörder ist?«
Aber im Innern konnte er sich kaum mehr halten vor Lachen.
Vier
Klage
Unnennbarer! Verhüllter! Entsetzlicher!
Du Jäger hinter Wolken!
Darnieder geblitzt von dir,
du höhnisch Auge, das mich aus Dunklem anblickt!
So liege ich,
biege mich, winde mich, gequält
von allen ewigen Martern,
getroffen
von dir, grausamster Jäger,
du unbekannter – Gott…
Friedrich Nietzsche, »Klage der Ariadne«
Kapitel
Imaginäre Gärten
NETFEED/NACHRICHTEN:
Keine Implantation ohne gerichtliche Verfügung
(Bild: Holger Pangborn und sein Anwalt steigen aus dem Wagen)
Off-Stimme: Das Oberste Bundesgericht der USA bestätigte ein vorinstanzliches Urteil, wonach der Vater und die Stiefmutter von Holger Pangborn aus Arizona seine Bürgerrechte verletzt hätten, als sie dem Teenager ein Verhaltenskontrollgerät einsetzen ließen, vergleichbar den Modchips, wie sie in Rußland und einigen Drittweltländern bei bedingt entlassenen Häftlingen angewandt werden. Pangborns Eltern haben erklärt, sie wollten den Fall vor den Internationalen Gerichtshof bringen.
H. Pangborns Anwalt: »Nicht allein, daß sie sich buchstäblich an seinem Körper vergangen haben, hinzu kommt, daß dies in einer erschreckend gefährlichen, schlampigen Art geschah. Die Implantation wurde von einer Person vorgenommen, die nicht einmal Arzt war und deren Approbation für medizinische Eingriffe zwei Jahre vorher vom Bundesstaat Arizona wegen groben Amtsvergehens zurückgezogen worden war …«
> In seiner Heimatsprache hatte es Worte gegeben, die besser als jeder englische Ausdruck wiederzugeben vermochten, wie Sellars sich diesen Ort vorstellte, das Terrain, wo alles, was er plante und tat, anschaulich gemacht werden konnte.
Techniker hatten ihre eigenen Bezeichnungen für solche Dinge, prosaische oder sogar ausgesprochen peinliche Bezeichnungen, nur ganz selten inspirierte. Aber ob man es nun ein Interface, ein Datendisplay oder eine Traumbibliothek nannte: was ein Jahrhundert zuvor als Versuch begonnen hatte, Informationen so darzustellen, daß noch andere Leute als Computerspezialisten sie verstehen konnten, zunächst in Form kindlicher Bildchen für die banalsten Bürogegenstände – Aktenordner, Briefkästen, Papierkörbe –, hatte sich Hand in Hand mit der Entwicklung der Technik ausgedehnt, bis die Formen, in denen Informationen geordnet und bearbeitet werden konnten, so individuell, ja so eigentümlich waren wie die Leute, die damit umgingen. Und Sellars war in jeder Hinsicht ein eigentümliches Individuum.
Wie jeden Tag kurz nach dem Aufwachen schloß er die Augen und versank in sich selbst, in den Tiefen seines verteilten Systems, das sich in den Lücken zahlloser anderer Systeme eingenistet hatte als eine Reihe winziger parasitärer Knoten, die unbemerkt auf dem dicken Fell der riesigen terrestrischen Datensphäre ihr Dasein fristeten. Sellars hatte diesen sinnvollen Verteilungsmodus von TreeHouse und ähnlichen Bandit-Sites gelernt, aber ihn seinen eigenen Bedürfnissen angepaßt und derart ausgeweitet, wie niemand es einem einzelnen Individuum zugetraut hätte. Zuerst hatten die meisten seiner Tentakel Betriebsmittel direkt von seinen Kerkermeistern abgezapft, der US-amerikanischen Armee. Im Hinblick auf die geplante Veränderung seiner Lebensumstände hatte er später begonnen, sein Datenraubgut auf Unmengen von anderen Netzwerken zu übertragen, doch es verschaffte ihm eine nicht geringe Befriedigung zu wissen, daß er seine Flucht mit den Werkzeugen derselben Leute bewerkstelligt hatte, deren Gefangener er gewesen war. Er hatte es zudem direkt vor ihrer Nase getan, und zwar mit Zugriffsmethoden, die sie nicht vermutet hatten und die keine Spuren hinterließen. Die Sucher vom Geheimdienst hatten nie etwas gefunden, wenn sie sein Häuschen auf dem Militärstützpunkt regelmäßig nach verbotenen Gegenständen oder sonstigen Hinweisen darauf durchforsteten, daß er weniger in sein Schicksal ergeben war, als es den Anschein machte, und die Militärchirurgen, die ihn jahrelang ebenso häufig wie unangemeldet auf die intimste, unangenehmste Art und Weise untersucht hatten, genausowenig.
Sellars hatte mehr
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