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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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ein Museumsangestellter mit einem Abschluß in Kunstgeschichte, einer, der weniger Macht hatte als ein Lehrer oder ein Betriebsrat. Wenn er bei der Erziehung von Jongleurs Tochter etwas vermasselt hatte, warum hatten sie ihn dann nicht einfach gefeuert? Wenn er irgendwie etwas über das Gralsprojekt herausgefunden hatte, was wahrscheinlich war, warum hatten sie ihn nicht einfach umgebracht? Vielleicht hatten sie den Aufwand gescheut, einen Unfall zu inszenieren oder einen Selbstmord, aber die Vorstellung war absurd, daß Leute wie Felix Jongleur und seinesgleichen soviel Aufmerksamkeit an ein Nichts verschwenden würden.
    Selbst wenn die Weltkriegssimulation schon vorher bestanden hatte, Finch und Mullet, ansonsten als Finney und Mudd bekannt, hatten viel Zeit für ihn geopfert und ihn verbissen durch das ganze Otherlandnetzwerk verfolgt. Warum?
    Gruselige Erinnerungen an seine Flucht aus den Schützengräben kamen ihm wieder, verschlimmert noch durch die Ähnlichkeit mit seiner gegenwärtigen Lage. Der Schlamm, die Leichen, die zerschmetterten Einzelteile von Männern und Maschinen unter den Füßen …
    Da hatte er einen Geistesblitz. Er hatte in der Hocke gesessen, doch jetzt ließ er sich auf alle viere fallen, kroch die Schräge hinunter und tastete dabei den Boden ab. Es war eine eklige Arbeit. Nicht nur wurden die menschlichen und tierischen Überreste mehr, je tiefer er kam, sondern bei vielen war zudem das Fleisch nicht völlig abgenagt worden, vielleicht weil die Spinnenmonster irgendwann bei einem großen Festschmaus nicht alles bewältigt hatten. Mit Schrecken wurde ihm klar, daß auf ihn und seine Freunde wahrscheinlich ein ähnliches Schicksal wartete – daß sie bis dahin nur deshalb unverletzt geblieben waren, weil sie bei irgendeinem grausigen Galadiner das Hauptgericht abgeben sollten.
    Der Gestank nahe dem unteren Ende der Grube war gräßlich, und auf Boden und Resten gleichermaßen wimmelte es von Kleingetier, das von der Großzügigkeit der Netzbauer schmarotzte. Am schlimmsten war, daß er weiter unten immer weniger Licht hatte und gezwungen war, alles in die Hand zu nehmen, was herumlag, suchte er doch nach etwas, das ihm und seinen Gefährten das Leben retten konnte.
    Während er so durch Moder und Fäulnis kroch, gingen ihm die letzten Stunden in der Weltkriegssimulation durch den Kopf. Ava – Avialle – war ihm auch dort erschienen, wie eine Vampirprinzessin hatte sie in einem Sarg gelegen. »Komm zu uns«, hatte sie gesagt. Sprach sie einfach den Text nach, den der Andere ihr vorgab, wie Martine vermutete? Um Paul und die anderen zu einer großen Rettungstat wie im Märchen zusammenzuführen? Aber warum? Und was hatte Ava für ein Interesse daran? Warum nahm sie immer auf so merkwürdigen Wegen Kontakt mit ihm auf?
    Er befingerte das Ding bereits mehrere Sekunden, bevor ihm aufging, was es war. Zuerst hatte er den verrottenden Gürtel fraglos als unbrauchbar abgetan – wenn schon eine Schnalle zu nichts nutze war, dann der erst recht –, doch als seine Finger ihn abtasteten und schließlich an die dreieckige Tasche kamen, pochte ihm das Herz, als ob es gleich aussetzen wollte.
    Er hatte nur auf einen Spazierstock oder vielleicht ein Messer gehofft, irgend etwas, das die Kreaturen weggeworfen hatten und woraus sich wenigstens ein kleiner Vorteil ziehen ließ. Jetzt wagte er kaum zu atmen, als er die Waffe aus dem Halfter zog. Es war anscheinend ein Revolver, wie er sie in alten Western gesehen hatte. Das Ding war überraschend schwer, aber mehr war der bloßen Berührung nicht zu entnehmen – er war kein Fachmann und hätte nie vermutet, daß er einmal mit Schußwaffen zu tun bekommen würde, einerlei ob mit alten oder neuen. Andererseits konnte sich wohl nicht einmal der paranoideste Waffenfanatiker in seinen schlimmsten Albträumen eine solche Situation vorstellen.
    Langsam und vorsichtig, obwohl er innerlich unter Hochspannung stand, zog und drückte er an der Trommel, bis sie endlich vom Lauf wegklappte. Er spähte angestrengt, konnte aber nichts erkennen. Ein behutsam in eines der Löcher gesteckter Finger stieß auf ein Hindernis, und weitere Untersuchung ergab, daß es bei den übrigen fünf Patronenkammern genauso war. Kugeln oder Schmutz? Ohne Licht und Zeit war das nicht auszumachen, und Paul bezweifelte, daß er unter den Umständen genug vom einen oder anderen bekommen konnte. Und selbst wenn es Kugeln sein sollten, war damit noch lange nicht gesagt, daß Feuchtigkeit und

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