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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Musterknabe.
    Los, fahr zum Flughafen! drängte eine ängstlichere Stimme. Sieh zu, daß du wegkommst! Erzähl ihm, deine Mutter liegt im Sterben. Erzähl ihm irgendwas.
    Aber ich kann mich nicht einfach verdrücken, wurde ihr plötzlich klar. Er wird mich nicht lassen, stimmt’s? Ich bin die einzige, die weiß, was er treibt. Der Schreck, der ihr noch in den Gliedern saß, überzog sich plötzlich mit einer dicken Eiskruste, wurde ganz schwer und kalt. Wenn er seinen Boß umgebracht hat, wird er dann mich einfach gehenlassen? Bestimmt nicht, wenn ich es eilig damit habe – das stachelt ein Raubtier doch erst zur Jagd an.
    Komm wieder auf den Teppich, Anwin – ein Raubtier? Übertreib’s mal nicht. Was hat er denn schon getan? Er hat dich engagiert. Er bezahlt dich. Na schön, du fährst jetzt doch nicht mehr so auf ihn ab…
    Mit hämmerndem Kopf setzte sie sich im Bett auf. Sie durchwühlte eine Weile ihre Handtasche, bevor ihr einfiel, daß sie die Pistole in die Schublade zu den Kaffeesachen gesteckt hatte.
    Bin ich jetzt völlig durchgedreht? Außerdem ist er so schnell – wenn er beim nächstenmal beschließt, sich nicht einfach abwimmeln zu lassen, hätte ich überhaupt die Chance, sie zu ziehen? Sie ließ ihre Tasche zu Boden gleiten. Zuviel. Das ist mir alles zuviel – ich muß schlafen.
    Eine halbe Stunde später hatten die Schmerztabletten zwar das Dröhnen im Schädel gelindert, aber an Schlaf war dennoch nicht zu denken. Sie stand auf und schlich leise durch den kurzen Flur in den Hauptteil des Loft.
    Dread lag wieder in seinem Spezialbett, friedlich wie ein Buddha. Ein nicht ganz erwachsener Teil von ihr flüsterte: Typisch Mann. Ich hab Kopfweh und überlege mir, ihn zu erschießen, und er schläft einfach seelenruhig.
    Aber er schlief natürlich nicht. Er war wieder im Netzwerk und machte dort … Dulcy hatte keine Ahnung, was er dort machte. Es kam ihr vor, als wäre sie seit Wochen nicht mehr dort gewesen, und irgendwie bekam sie nostalgische Gefühle, wenn sie daran zurückdachte.
    Was zum Teufel führt er im Schilde?
    Erbost von ihrer Ängstlichkeit, auch wenn sie diese noch keineswegs los war, schnappte sie sich ihr Pad vom Tisch, verzog sich damit auf ihr Zimmer und schloß die Tür ab. Gleich darauf besah sie sich die fast vollständige Vernichtung der Entsorgungsdateien, die der Datenfresser angerichtet hatte, aktivierte ihr Wiederherstellungsgear und lehnte sich zurück. Sie wünschte, sie hätte ein unkomplizierteres Hobby, um sich die Zeit zu vertreiben – Rauchen oder Alkoholismus oder russisches Roulette.
    Ist jetzt die Zeit für die seelische Generalinventur gekommen, Dulcy? Sie spielte mit dem Gedanken, aber schob ihn dann beiseite. Das Leben war im Augenblick zu konfus, und es empfahl sich nie, Entscheidungen zu treffen, wenn man deprimiert und ausgelaugt war.
    Solange das Gear gearbeitet hatte, war sie dreimal durch die ganze Wohnung marschiert und hatte Mitteilungen von Leuten aus den Staaten beantwortet, darunter einen wunderlichen, langatmigen Erguß ihrer Nachbarin Charlie darüber, warum sie Dulcys Katze Jones versehentlich Hundefutter gegeben hatte, ein Vorfall, der nicht einmal mit einem direkten Rückruf ganz aufzuklären war. Jetzt öffnete sie mit äußerst geringen Hoffnungen die geretteten Dateien, und was sie fand, entsprach ungefähr ihren Befürchtungen – Fragmente. Einige waren völlig unverständliche gescrambelte Textfetzen, die vielleicht einmal zu Buchungsdateien oder sogar persönlichen Mitteilungen gehört hatten, aber jetzt genausogut Schriftstücke in einer toten Sprache hätten sein können. Es gab ein paar klarere Passagen, aber sie waren ungefähr das, was nach der statistischen Wahrscheinlichkeit herauskam, wenn ein zufälliges halbes Prozent einer einstmals riesigen und vielfältigen Datenmasse wiederhergestellt wurde, sinnlose Reste von Berichten ohne genug erklärenden Kontext. Das einzige Bemerkenswerte war, daß einige der Fragmente in einem medizinischen Jargon gehalten waren, so als ob sie Teile von ärztlichen Untersuchungsergebnissen wären. Es gab Äußerungen über einen Medikamentenwechsel und eine Liste von anscheinend hirnchemischen Laborwerten, aber viel detaillierter, als man es in der Med-Akte selbst eines so wichtigen und ungewöhnlichen Beschäftigten wie Dread vermuten würde.
    Im Grunde konnte sie anhand des wenigen, das nach dem Vernichtungsangriff des Datenfressers übriggeblieben war, nicht einmal mit Bestimmtheit sagen,

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