Otherland 4: Meer des silbernen Lichts
Leid. Sie machte eine Faust und schlug gegen den Behälter – ein kraftloser, lächerlicher Hieb auf den bombenfesten Plastahl, doch Felix Jongleur war mit einemmal zum Ersticken zumute, so sehr würgte ihn die Furcht. Eine Fremde in seinem Haus – sie verging sich an ihm. Sie hatte ihn verfolgt und gestellt, und jetzt verging sie sich an ihm.
Nein! Das lasse ich nicht zu! Ein Dutzend möglicher Vergeltungsmaßnahmen schoß ihm durch den Kopf, doch die Evakuierung und die Blockierung seines Systems vereitelten sie alle. Selbst seine Sicherheitsvorkehrungen für den äußersten Notfall funktionierten nicht. Er konnte keine lähmenden Gase oder Schallwellen in den Raum schicken.
Das lasse ich nicht zu!
Plötzlich kam ihm eine Idee, doch im ersten Moment war er unschlüssig, ob sie genial oder völliger Irrsinn war. Monate – sie waren seit fast vierundzwanzig Monaten immobilisiert. Ob es gehen würde? Ja doch, es mußte gehen. Er gab Befehl, beiden eine extrem hohe Dosis Adrenalin zu verabreichen. Es würde gehen. Er wußte es. Er war jetzt ganz aufgeregt, und auf einmal raste sein Puls vor fiebriger Schadenfreude, nicht mehr vor Angst. Wie war nochmal die Freilassungssequenz? Wenn sie einen solchen Adrenalinstoß bekamen und nicht herauskonnten, würden sie völlig durchdrehen – vor lauter Erregung die Atemmasken herunterreißen und in der Suspension ertrinken.
Da. Er wählte die entsprechenden Befehle. In dem Fenster, das er hinter geschlossenen Lidern sah, zeigte das System ihm die physiologischen Werte, deren Graphen bereits normalen Höhen entgegenkletterten und dann, angetrieben von dem Adrenalinschub, darüber hinausschossen. Er holte sich wieder die Ansicht der nichtsahnenden Frau, die selbstvergessen auf dem Boden seines Sanctum sanctorum saß, in der Mitte zwischen seinem eigenen hilflosen Körper und den letzten Überresten des Uschebti, des schrecklichen Fehlers, der ihn letztlich seine schöne Avialle gekostet hatte.
Sie vergeht sich an mir. Sie…
»Wenige Schritte von euch entfernt ist ein Eindringling, eine Frau«, dröhnte er seinen Dienern mit hoher Lautstärke in die Ohren, damit sie seine Worte behielten, wenn sie nach zwei Jahren zum erstenmal völlig verwirrt in ihren wirklichen Körpern aufwachten. »Greift sie euch und quält sie und findet heraus, was sie weiß. Wenn ihr das tut, dürft ihr danach draußen bleiben.«
Die Anzeigelichter blinkten, dann blinkten sie abermals, und die Deckel der zwei schwarzen Behälter klappten langsam auf.
Kapitel
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NETFEED/NACHRUF:
Robert Wells, Gründer von TMX
(Bild: Wells beim Telemorphix-»Gipfeltreffen«)
Off-Stimme: Robert Wells, ein Pionier der modernen Technik und einer der reichsten Männer der Welt, starb gestern an einem Herzinfarkt. Wells, der Gründer der Telemorphix Corporation, war einhundertelf Jahre alt.
(Bild: Owen Tanabe, Wells’ rechte Hand)
Tanabe: »Er schied aus dem Leben, wie er es sich gewünscht hätte – an seinem Arbeitsplatz, ans Netz angeschlossen, bis zum letzten Moment unermüdlich im Einsatz für die Verbesserung des menschlichen Lebens. Auch wenn er jetzt von uns gegangen ist, werden die großen Visionen von Bob Wells für uns alle noch lange wegweisend sein …«
> Er lachte, lachte aus vollem Halse. Er konnte nicht anders. Sein Herz loderte vor Ekstase, seine Gedanken waren wie ein großes, funkensprühendes Rauchgewirbel. Er barst schier vor Leben – es war, als ob der letzte Moment der Jagd durch eine halluzinatorische Zeitverzerrung zu einem stundenlangen Orgasmus ausgedehnt worden wäre.
Der Chor in seinem Kopf hatte sich zum Crescendo gesteigert. Kamera in Nahaufnahme. Gesicht gerötet, aber cool und attraktiv. Der Sieger. Keiner hält ihn auf.
Alle seine Feinde im Netzwerk waren ihm jetzt wehrlos ausgeliefert – die blinde Frau, Jongleur, das Hurenaas von Sulaweyo, sogar das Betriebssystem selbst. Sie duckten sich vor ihm. Er war der Zerstörer, das Tier, der erzteuflische Teufel. Er war ein Gott.
Und außerhalb des Netzwerks …?
Zurück auf Fernaufnahme. Die Feinde zu seinen Füßen. Der einzige, der noch steht.
Dread besah sich die beiden Körper auf dem Boden des Loft. Dulcy lag regungslos und zusammengeklappt da wie eine Marionette mit durchgeschnittenen Fäden, während sich um sie herum eine Blutlache ausbreitete. Die Polizistin bewegte sich noch, aber nur wenig; ihr Kopf zuckte im Takt zu ihren kurzen, hechelnden Atemzügen, und das frische hellrote Blut bildete auf
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