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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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hatte, wieder in einfachen Nebel, der aufriß und sich zerstreute. Die vielen Flüchtlinge, die ebenfalls ihre entscheidende Feinauflösung verloren hatten, hasteten und stolperten davon wie fehlprogrammierte Roboter und schrien in kindlichem Entsetzen. Eine dunkle Gestalt schälte sich aus dem abziehenden Dunst heraus und schritt, spinnwebartig umflort von den letzten Resten der Barriere, auf den Brunnen zu. Märchenfiguren, die sich zu sehr in der Nähe des zerfleddernden Vorhangs aufgehalten hatten, warfen sich vor dem Schattenmann zur Seite und preßten in hilfloser Panik das Gesicht auf den Boden. Die unheimliche Erscheinung beachtete sie gar nicht und schritt durch die sich teilenden Massen wie ein gräßlicher lichtloser Mose durchs Rote Meer. Sam war vor Furcht wie gebannt. Orlando stand schwankend neben ihr, und das Schwert fiel ihm aus der Hand in den Staub.
    »Jetzt rechnen wir ab«, ertönte die furchtbare, hämische Stimme in Sams Kopf, so daß sie am liebsten ihren Schädel gegen einen Stein geschlagen hätte, bis sie nichts mehr hörte. »Ende. Abblende. Nachspann.«
    »Der Brunnen!« heulte Florimel auf. Sie klang unendlich weit entfernt. »Er sinkt!«
    Sam drehte sich um und sah, daß der Inhalt des Brunnens langsam abfloß, so daß das geringe Restleuchten ganz erstarb und der schwarze Himmel sich drückend auf sie legte wie eine mottenzerfressene Decke. Das einzige Licht in der Welt schien jetzt von den Augen und den gefletschten Zähnen ihres Feindes auszugehen.
    »In den Brunnen!« schrie jemand hinter ihr – Paul, Nandi, sie wußte es nicht. »Ein anderer Ausweg bleibt uns nicht! In den Brunnen runter!« Doch Sam konnte den Blick nicht von der herannahenden Finsternis losreißen.
    Jetzt passiert’s.
    Das Ding unterm Bett … das Geräusch im Schrank … der lächelnde Fremde, der auf deinem Heimweg von der Schule neben dir am Straßenrand hält …
    Orlandos harte Hand packte zu und riß sie hoch. Er zog sie zu der Stelle am Rand des Kraters, wo Martine Desroubins auf Hände und Knie gefallen war. Die meisten der übrigen Gefährten hasteten bereits auf einem Pfad, den Sam noch nicht erkennen konnte, ins Dunkel hinab. Die blinde Frau sah aus, als ob sie vor Qual schrie. Orlando und Paul Jonas griffen sie und hoben sie hoch.
    »Wo seid ihr?« Sanft wie eine Schlangenzunge streichelte Dreads Stimme ihre Ohrmuschel. »Ihr könnt euch nicht vor mir verstecken. Ich kenne euch alle zu gut.«
    Sie trat hinter Orlando und Paul auf einen Felsenpfad, der an der Innenwand des leeren Kraters in die Tiefe führte. Obwohl sie Martine zwischen sich baumeln hatten, schritten die beiden zügig aus. Sam wollte ihnen eilig folgen, doch da stolperte sie über etwas und fiel hin. Als sie wieder auf den Beinen war, waren die beiden schon unter ihr im Dunkel verschwunden. In panischer Angst schaute Sam zurück, weil sie das Scheusal mit der eiskalten Stimme unmittelbar hinter sich wähnte, und sah, worüber sie gestolpert war – einen menschlichen Fuß. Der kleine Cho-Cho lag seitlich am Weg im Schatten, kaum zu erkennen.
    In ihrer kopflosen Angst vor dem Grauen, das ihr im Nacken saß, wäre sie am liebsten sofort weiter hinter den anderen hergerannt.
    Nein, er ist doch noch ein Mikro! Ich kann ihn nicht diesem … Ding überlassen.
    Obwohl alles in ihr sich dagegen auflehnte, eilte sie die paar Schritte zurück. Cho-Cho schien zu schlafen und von der tödlichen Gefahr, in der sie schwebten, gar nichts mitzubekommen. Als sie ihn aufraffte und auf den Arm nahm, geriet sie unter dem schlaffen Gewicht ins Taumeln.
    »Was ist los?« drang Sellars’ Phantomstimme aus dem offenen Mund des Jungen. »Wer bist du?«
    »Alles – alles ist los! Ich bin’s, Fredericks.« Sie stolperte erneut und wäre beinahe über die Kante gestürzt.
    »Wo ist Martine?«
    »Ach … sei still«, ächzte Sam. Sie hatte Mühe, sich beim Abstieg auf dem holperigen Pfad auf den Beinen zu halten. Die Seitenwände verloren rasch den letzten Anschein von Wirklichkeit; ein trüber Schimmer ging jetzt von ihnen aus, ähnlich den flüssigen Sternen, nur dunkler. Sie meinte, wenige Meter vor sich die verschwommenen Silhouetten von Orlando und Paul wahrzunehmen.
    Umgekehrt – !Xabbu hatte recht! Ihre Gedanken schwirrten wie ein aufgebrachter Wespenschwarm. Es ist der umgekehrte Berg …!
    Sie konnte hinter sich noch niemanden sehen, doch die Bilder in ihrem Kopf waren plastisch genug: Der schattenhafte Dread mit den leeren Augenhöhlen war in ihrer

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