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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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gesehen; einmal war genug. Weihnachten 1953 ist alles, was ich
an Weihnachten brauche.
    In jenem Dezember waren die Abende lang; die Abendessen mit Dan
oder mit meiner Großmutter zogen sich hin und waren alles andere als feierlich.
Von diesen Abenden ist mir in bleibender Erinnerung, daß Lydias Rollstuhl geölt
werden mußte und daß Dan sich in einem ganz untypisch bitteren Ton darüber
beklagte, wie sehr Amateure Charles Dickens’ Stück Ein
Weihnachtslied doch verhunzen konnten. Dans Stimmung besserte sich auch
nicht durch die häufigen Besuche unseres Nachbarn – von Dans erfahrenstem Amateur – Mr.   Fish.
    »Ich hatte mich so darauf gefreut, den Scrooge zu spielen«, sagte
Mr.   Fish, der so tat, als käme er aus einem ganz anderen Grund nach dem
Abendessen bei uns vorbei – wenn er Dans Wagen in der Auffahrt sah. Manchmal
kam er, um meiner Großmutter wieder einmal zuzustimmen, daß die Verordnung über
Hundeleinen endlich in Gravesend in Kraft gesetzt werden müsse – Mr.   Fish und
Großmutter waren beide dafür, daß Hunde an der Leine geführt werden sollten.
Mr.   Fish schien keinerlei schlechtes Gewissen bei dieser Heuchelei zu haben – denn ganz bestimmt würde [251]  sich der gute
Sagamore im Grab umdrehen, daß sein früherer Herr wie auch immer geartete
Beschränkungen für Hunde befürwortete; Sagamore war frei herumgelaufen, bis
zuletzt.
    Doch es ging Mr.   Fish eigentlich nicht um die Hundeleinenverordnung;
es ging ihm um die Rolle des Scrooge – des hartherzigen Kontoristen, den am
Weihnachtsabend vier Geister aufsuchen und ihm sein schlechtes Leben vorhalten.
Es war eine Bombenrolle, doch sie wurde (in Mr.   Fishs Augen) von den
Amateurgeistern ruiniert.
    »Die Geister sind noch nicht einmal das Schlimmste«, meinte Dan. »Am
Ende des Stückes warten die Zuschauer nur drauf, daß Tiny Tim stirbt – am
liebsten würden sie selbst auf die Bühne rennen und den Bengel mit seiner
eigenen Krücke erschlagen.« Dan war immer noch enttäuscht, daß er Owen nicht
dazu überreden konnte, den mutigen kleinen Krüppel zu spielen, doch das
Jesuskind ließ sich von Dans Bitten nicht erweichen.
    »Diese blöden Geister!« jammerte Mr.   Fish.
    Der erste Geist, Marleys Geist, war ein fürchterlicher Aufschneider
aus der Englischen Abteilung der Gravesend Academy; Mr.   Early spielte jede
Rolle, die Dan ihm gab, als sei er King Lear – jede seiner Handlungen war von
Wahnsinn und Tragik angetrieben, wilde Melancholie kam in seinen entsetzlichen
zuckenden Anfällen zum Ausdruck. »Heute nacht komme ich zu dir, um dich zu
warnen«, sagt Mr.   Early zu Mr.   Fish, »da du noch eine Chance hast, meinem
Schicksal zu entgehen…«, wobei er ständig an der Binde herumfummelt, die die
Toten um den Kopf haben, damit ihnen der Unterkiefer nicht auf die Brust
herabfällt.
    »Du bist mir immer ein guter Freund gewesen«, sagt Mr.   Fish zu Mr.
Early, doch der hat sich in der Binde verheddert und darüber seinen Text
vergessen.
    »Vier Geister werden zu dir kommen«, sagt Mr.   Early; Mr.   Fish
schließt die Augen.
    »Drei, nicht vier!« brüllt Dan.
    [252]  »Aber bin ich denn nicht der
vierte?« fragt Mr.   Early.
    »Sie sind der erste !« erklärt ihm Mr.
Fish.
    »Aber es kommen doch noch drei«, entgegnet Mr.   Early.
    »Mein Gott!« stöhnt Dan.
    Doch Marleys Geist war nicht so schlimm wie der Geist der
vergangenen Weihnacht, eine nervige junge Frau, die im Bibliotheksausschuß saß,
Männerkleidung trug und sich höchst aggressiv eine Zigarette nach der anderen
ansteckte; und sie war nicht so schlimm wie der Geist
der diesjährigen Weihnacht, Mr.   Kenmore, der Metzger aus unserem Supermarkt,
der (so Mr.   Fish) wie ein rohes Hähnchen roch und immer die Augen schloß,
sobald Mr.   Fish den Mund öffnete – Mr.   Kenmore mußte sich so stark auf seine
eigene Rolle konzentrieren, daß er die Anwesenheit von Scrooge als störend
empfand. Und keiner der drei Geister war so schlimm
wie der Geist der zukünftigen Weihnacht – Mr.   Morrison, unser Postbote, dem die
Rolle geradezu auf den Leib geschnitten schien. Er war eine große, dürre,
düstere Erscheinung; er strahlte Bitterkeit aus – Hunde verzichteten nicht nur
darauf, ihn zu beißen, sie schlichen sich sogar davon, offenbar wußten sie, daß
sein Fleisch den schrecklichen Geschmack einer giftigen Kröte hatte. Er hatte
etwas Finsteres, Entrücktes an sich, das Dan als geradezu perfekt für das
letzte, grimmige Phantom angesehen

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