Owen Meany
will nicht, daß ihn jemand hört – er will sie nur halten «,sagte Hester.
Als er sich wieder zu Hester und mir im Transporter gesellte, meinte
ich zu ihm: »Das hätte ich gerne gehört. Willst du es uns nicht vorlesen?«
[673] »ES IST
VORBEI«, gab er zurück. »DAS IST JETZT
AUS UND VORBEI.«
Und so fuhren wir hoch hinauf in den Norden – nach Sawyer Depot, zum
Loveless Lake. Wir nahmen den Transporter; Hester nahmen wir nicht mit. Ich bin
nicht sicher, ob sie mitkommen wollte. Sie hatte versucht, mit ihren Eltern zu
reden; Onkel Alfred und Tante Martha freuten sich immer, wenn sie mich sahen,
und sie waren höflich – wenn auch nicht direkt herzlich – zu Owen Meany. Die
erste Nacht unserer Urlaubsreise verbrachten wir im Haus der Eastmans in Sawyer
Depot. Ich schlief in Noahs Bett; Noah war beim Peace Corps – ich glaube, er unterrichtete Forstwirtschaft oder »Forstmanagement« in
Nigeria. Onkel Alfred nannte das, was Noah tat, eine »Fahrkarte« – Afrika,
beziehungsweise das Peace Corps, sei Noahs »Fahrkarte
aus Vietnam«, meinte Onkel Alfred.
In diesem Sommer kümmerte sich Simon um das Sägewerk; über die Jahre
hinweg hatte sich Simon – beim Skilaufen – so oft das Knie verletzt, daß die
Knie seine Fahrkarte aus Vietnam darstellten. Simon
war untauglich gemustert worden. »Solange unser Land nicht von Außerirdischen
überfallen wird«, lachte Simon, »wird Onkel Sam nichts von mir wollen.«
Owen bezeichnete seinen Verwaltungsgrundlehrgang für das Adjutant General’s Corps als VORÜBERGEHEND .
Auch Arizona würde ein VORÜBERGEHENDER Aufenthalt für ihn
werden, meinte Owen. Onkel Alfred respektierte Owens Wunsch, nach Vietnam zu
gehen, doch Tante Martha stellte während des gediegenen Abendessens die
moralische Berechtigung des Krieges in Frage.
»DAS TUE ICH EBENFALLS«, meinte Owen
Meany. »ABER ICH FINDE, MAN SOLLTE SICH DIE DINGE SELBST
ANSEHEN, UM SICHERZUGEHEN. ICH NEIGE DAZU, KENNEDYS EINSCHÄTZUNG DES
VIETNAM-PROBLEMS ZUZUSTIMMEN – DAMALS, NEUNZEHNHUNDERTDREIUNDSECHZIG.
VIELLEICHT ERINNERN SIE SICH [674] NOCH DARAN,
WAS DER PRÄSIDENT GESAGT HAT: ›WIR KÖNNEN IHNEN HELFEN, WIR KÖNNEN IHNEN
MATERIAL LIEFERN, WIR KÖNNEN UNSERE LEUTE ALS BERATER HINSCHICKEN, ABER DAS
VIETNAMESISCHE VOLK MUSS IHN ALLEINE GEWINNEN.‹ ICH DENKE, DAS GILT AUCH HEUTE
NOCH – UND UNS ALLEN IST KLAR, DASS ›DAS VIETNAMESISCHE VOLK‹ DIESEN KRIEG NICHT GEWINNEN WIRD. ES SIEHT SO AUS,
ALS WÜRDEN WIR VERSUCHEN, IHN FÜR DAS VIETNAMESISCHE VOLK ZU GEWINNEN.
ABER NEHMEN WIR DOCH EINMAL AN, WIR WÜRDEN AN DAS
ERKLÄRTE ZIEL DER JOHNSON-REGIERUNG GLAUBEN – UND DIESE POLITIK UNTERSTÜTZEN.
WIR SIND DAMIT EINVERSTANDEN, DIE KOMMUNISTISCHEN ANGRIFFE IN SÜDVIETNAM – OB
VON SEITEN DER NORDVIETNAMESEN ODER DES VIETKONG – ABZUWEHREN. WIR UNTERSTÜTZEN
DEN GEDANKEN DES RECHTS AUF SELBSTBESTIMMUNG FÜR SÜDVIETNAM – UND WIR WOLLEN
FRIEDEN IN SÜDOSTASIEN. WENN DAS WIRKLICH UNSER ZIEL IST – WENN WIR UNS EINIG
SIND, DASS ES DAS IST, WAS WIR WOLLEN – WARUM TREIBEN WIR DEN KRIEG DANN VORAN?
ES SCHEINT, ALS GÄBE ES KEINE REGIERUNG IN SAIGON,
DIE OHNE UNS ZURECHTKOMMT. WOLLEN DIE VIETNAMESEN ÜBERHAUPT DIE MILITÄRJUNTA VON MARSHALL KY?
NATÜRLICH WERDEN SICH HANOI UND DER VIETKONG NICHT AUF FRIEDENSVERHANDLUNGEN
EINLASSEN, SOLANGE SIE GLAUBEN, SIE KÖNNEN DEN KRIEG GEWINNEN! DIE VEREINIGTEN
STAATEN HABEN ALLEN GRUND, GENÜGEND BODENTRUPPEN IN SÜDVIETNAM ZU BEHALTEN, UM
HANOI UND DEN VIETKONG DAVON ZU ÜBERZEUGEN, DASS SIE NIEMALS EINEN
MILITÄRISCHEN SIEG ERRINGEN KÖNNEN. ABER WAS NÜTZT ES UNS, WENN WIR DEN NORDEN
BOMBARDIEREN?
ANGENOMMEN, WIR MEINEN, WAS WIR SAGEN – WIR WOLLEN,
DASS SÜDVIETNAM FREI IST, EINE EIGENE REGIERUNG ZU WÄHLEN –, DANN SOLLTEN WIR
SÜDVIETNAM SICHERLICH VOR ANGRIFFEN SCHÜTZEN. ABER ES SIEHT AUS, ALS WÜRDEN WIR
DAS [675] GANZE LAND ANGREIFEN – AUS DER LUFT!
WENN WIR DAS GANZE LAND KAPUTTBOMBARDIEREN – UM ES VOR DEM KOMMUNISMUS ZU SCHÜTZEN – WAS IST DAS
DANN FÜR EINE ART VON SCHUTZ?
ICH GLAUBE, DA LIEGT DAS PROBLEM«, sagte
Owen Meany. »ABER ICH WÜRDE MIR DAS GANZE GERN SELBST ANSEHEN.«
Onkel Alfred war sprachlos. Tante Martha sagte: »Ah, ja.« Beide
waren tief beeindruckt. Mir wurde klar, daß Owen zum Teil deshalb nach Sawyer
Depot hatte fahren wollen, um Hesters Eltern zu beeindrucken. Ich hatte Owens
Vietnamtheorie schon gehört; sie war nicht sonderlich originell – ich glaube,
so ähnlich hatte es Arthur Schlesinger gesagt oder
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