Owen Meany
da einen Freund«, sagte ich an jenem Abend zu Hester. Ich
dachte, es sei am besten, bei ihr anzufangen und erst einmal sie einzunehmen – und dann Noah und Simon von Owen zu erzählen; doch obwohl ich leise zu Hester
sprach und glaubte, Noah und Simon seien damit beschäftigt, einen Sender im
Radio zu suchen, hörten mich die beiden und waren sogleich neugierig.
»Was für einen Freund?« wollte Noah wissen.
»Also, er ist mein bester Freund«, sagte ich vorsichtig, »und er
will euch alle kennenlernen.«
»Schön, toll – wo ist er denn, und wie heißt er?« fragte Simon.
»Owen Meany«, sagte ich so direkt wie möglich.
»Wie?« meinte Noah, und alle drei fingen an zu lachen.
»Klingt wie ein Waschlappen!« sagte Simon.
»Und was ist los mit ihm?« wollte Hester wissen.
»Nichts ist los mit ihm«, entgegnete ich, ein bißchen zu defensiv.
»Er ist ziemlich klein.«
»Aha, ziemlich klein«, wiederholte Noah.
»Und ein ziemlicher Waschlappen, wie?« Das kam von Simon.
»Nein, er ist kein Waschlappen«, widersprach ich. »Er ist nur klein.
Und er hat eine komische Stimme«, platzte ich heraus.
»Eine komische Stimme!« sagte Noah mit komischer Stimme.
»Eine komische Stimme?« sagte Simon, auch mit komischer Stimme.
»Also, er ist klein und hat eine komische Stimme«, sagte Hester.
»Und? Was ist sonst noch mit ihm los ?«
[100] »Nichts!« wiederholte ich.
»Warum sollte irgendwas mit ihm los sein, Hester?« fragte Noah sie.
»Hester will wohl was von ihm«, meinte Simon.
»Halt den Mund, Simon«, sagte Hester.
»Ihr haltet jetzt beide den Mund«, fuhr Noah dazwischen. »Ich will
wissen, warum Hester meint, daß mit jedem irgendwas los sein muß.«
»Also mit deinen Freunden ist immer
irgendwas los, Noah«, gab Hester zurück. »Und mit den Freunden von Simon auch«,
fügte sie hinzu. »Und ich würde wetten, mit Johnnys Freunden ist es genauso.«
»Aber mit deinen Freunden ist wohl alles
in Butter«, sagte Noah zu seiner Schwester.
»Hester hat doch gar keine Freunde!« posaunte Simon.
»Halt die Klappe!« gab Hester zurück.
»Warum wohl?« fragte Noah.
»Du hältst auch die Klappe!« keifte Hester.
»Also, mit Owen ist jedenfalls nichts Besonderes los«, sagte ich.
»Außer, daß er ziemlich klein ist und seine Stimme ein bißchen anders.«
»Klingt, als könnt’s ganz lustig werden mit ihm«, sagte Noah
freundlich.
»Hej«, meinte Simon und klopfte mir auf den Rücken. »Wenn er dein
Freund ist, mach dir keine Sorgen – wir werden nett zu ihm sein.«
»Hej«, meinte Noah und klopfte mir auch auf den Rücken. »Mach dir
keine Sorgen. Wir werden uns gut vertragen.«
Hester zuckte mit den Schultern. »Abwarten«, sagte sie. Ich hatte
sie seit Ostern nicht mehr geküßt. Bei meinem Sommerbesuch in Sawyer Depot
waren wir jeden Tag draußen gewesen, und keiner hatte ausgerufen: »Wer zuletzt
durchs Haus ist, muß Hester küssen.« Ich hatte meine Zweifel dran, daß wir es
in [101] diesen Ferien spielen würden, denn meine
Großmutter erlaubte nicht, daß wir durch ihr Haus tobten. Also muß ich
vielleicht bis Weihnachten warten, dachte ich.
»Vielleicht möchte dein Freund gern mal Hester küssen«, meinte
Simon.
»Ich entscheide, wer mich küßt«,
entgegnete Hester.
»Was du nicht sagst!« sagte Noah.
»Ich fürchte, Owen wird vielleicht ein bißchen schüchtern sein, am Anfang«, wagte ich einen weiteren Vorstoß.
»Meinst du damit, daß er mich nicht gern küssen würde?« fragte
Hester.
»Ich meine nur, daß er vielleicht ein bißchen scheu ist, am Anfang«,
erklärte ich.
»Du küßt mich jedenfalls gern«, sagte
Hester.
»Das stimmt gar nicht«, log ich.
»Doch!« gab sie zurück.
»Sieh mal einer an!« sagte Noah.
»Hesterlein ist nicht kleinzukriegen! Hesterlein – Lästerschwein! Hester the Molester! « meinte Simon.
»Halt den Mund!« fauchte Hester ihn an.
Und somit war alles bereit für Owen Meanys Auftritt.
Am Tag nach Thanksgiving machten wir vier so viel Krach auf dem
Speicher, daß wir nicht hörten, wie Owen Meany die Treppe heraufgeschlichen kam
und die Falltür öffnete. Ich kann mir vorstellen, was Owen dachte;
wahrscheinlich wartete er darauf, daß wir ihn bemerkten, so daß er sich nicht
selbst bemerkbar machen mußte – damit nicht das allererste, das die drei von
ihm zu hören bekamen, diese fürchterliche Stimme war. Andererseits war sein
Anblick, so klein und seltsam, möglicherweise ein genauso großer Schock für
sie. Owen mußte diese
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