Owen Meany
beiden Möglichkeiten sorgfältig abgewogen haben: ob er
nun etwas sagen sollte, was auf jeden Fall verblüffend wirkte, oder ob er
warten sollte, bis jemand ihn [102] sah, was
vielleicht noch mehr Verblüffung hervorrufen würde. Owen sagte mir später, daß
er einfach dastand, neben der Tür – die er absichtlich laut zugemacht hatte, in
der Hoffnung, die Tür würde unsere Aufmerksamkeit
erregen. Doch wir hörten nicht, wie sie zufiel.
Simon trampelte wie besessen auf dem Fußpedal der alten Nähmaschine
herum, so daß Nadel und Spule vor unseren Augen verschwammen, und Noah hatte es
geschafft, einen Arm von Hester so weit vorzuschieben, daß der Ärmel ihrer
Bluse an den alten Flicken, auf dem sie vorher herumgenäht hatte, angeheftet
wurde und daß sie ihre Bluse ausziehen mußte, um sich von der Nähmaschine zu
befreien, die Simon, der außer Rand und Band war, um keinen Preis stillstehen
lassen wollte. Owen sah zu, wie Noah Simon auf die Ohren schlug, um ihn
dazuzubringen, endlich vom Fußpedal abzulassen, und Hester stand in ihrem
T-Shirt da, angespannt und ganz rot im Gesicht, und jammerte über ihre einzige
weiße Bluse, aus der sie nun ein purpurrotes eigenwilliges Muster wieder
herauszupfen mußte. Und ich sagte gerade, wenn wir nicht sofort mit dem Krawall
aufhören würden, dann könnten wir uns auf eine Tirade von Großmutter gefaßt
machen – über den Verkaufswert ihrer antiken Nähmaschine.
Die ganze Zeit stand Owen Meany an der Falltür und beobachtete uns – war abwechselnd drauf und dran, seinen ganzen Mut zusammenzunehmen und sich
vorzustellen, oder aber nach Hause zu rennen, ehe einer von uns seine
Anwesenheit bemerkte. In diesem Augenblick müssen ihm die drei schlimmer
vorgekommen sein, als er sie sich in seinen allerschlimmsten Träumen ausgemalt
hatte. Es war schockierend zu sehen, wie sehr Simon es liebte, geschlagen zu
werden; nie habe ich einen Jungen gesehen, dessen einziger Widerstand dagegen,
regelmäßig von einem älteren Bruder geschlagen zu werden, darin bestand, es
hingebungsvoll zu genießen. So wie er es liebte, sich Berge hinabkullern zu
lassen, von Sägemehlhügeln hinuntergestoßen zu werden und beim Skilaufen [103] immer nur ganz knapp an den Bäumen vorbeizurasen,
blühte Simon unter dem Hagel von Noahs Schlägen auf. Noah mußte ihn fast immer
blutig schlagen, ehe er um Gnade bat – und wenn Blut floß, hatte Simon
irgendwie gewonnen; dann mußte Noah sich schämen. Und jetzt schien Simon sich
dem Ziel verschrieben zu haben, die Nähmaschine kaputtzutreten – er klammerte
sich mit beiden Händen an der Tischplatte fest, hatte die Augen vor Noahs
prügelnden Fäusten fest geschlossen, und strampelte so wild mit den Knien, als
rase er in einem zu kleinen Gang mit dem Fahrrad einen steilen Berg hinunter.
Die Brutalität, mit der Noah auf seinen Bruder einschlug, hätte wohl jedem
außenstehenden Beobachter den Blick für Noahs in Wahrheit ruhige und
ausgeglichene Art und seinen durchweg ehrenwerten Charakter verstellen können.
Noah hatte gelernt, daß das Prügeln seines Bruders ein Vorgang war, der Geduld,
Entschlossenheit und strategisches Denken verlangte – es hatte keinen Zweck,
Simon die Nase zu schnell blutig zu schlagen; besser schlug man ihn dort, wo es
zwar wehtat, aber nicht zu schnell blutete; besser versuchte man, ihn
weichzuklopfen.
Doch ich vermute, daß Hester Owen am meisten beeindruckte. Wie sie
so im T-Shirt dastand, konnte es keinen Zweifel geben, daß sie eines Tages
einen beeindruckenden Busen haben würde; der frühe Ansatz dazu war ebenso deutlich
sichtbar wie ihr männlicher Bizeps. Und wie sie mit den Zähnen den Faden aus
ihrer ruinierten Bluse riß – wobei sie fauchte und fluchte, als würde sie die
Bluse gleich auffressen – muß Owen Meany die Gefährlichkeit ihres Mundes in
vollem Umfang deutlich gemacht haben; in diesem Augenblick war ihre
Raubtiernatur recht augenfällig.
Natürlich hatte mein Flehen hinsichtlich der unvermeidlichen
großmütterlichen Vorwürfe nicht nur nichts gefruchtet, es wurde genauso wenig
zur Kenntnis genommen wie Owen Meany, der mit hinter dem Rücken gefalteten
Händen dastand. Durch das Dachfenster schien die Sonne auf seine durchsichtigen
Ohren, die [104] eine glühend rosa Farbe
angenommen hatten – das Licht war so hell, daß die winzigen Venen und
Blutgefäße in seinen Ohren wie von innen beleuchtet schienen. Die kräftige
Morgensonne strahlte von oben und schräg von hinten so auf seinen
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