Paarungszeit: Roman (German Edition)
angesichts der Tatsache, dass niemand, wirklich kein einziger Mensch aus Neuenthal, den Fragebogen zurückgeschickt hatte.
Es interessierte schlicht niemanden, wer Neuenthals Geschicke lenkte. Im Grunde nicht viel anders als in der großen Politik. Und in der Geschichte. Brot und Spiele, so nannte es ihre Wahlberaterin, neben der sie gerade dem Pfingstmarkt entgegenfuhr, Brot und Spiele, das wollten die Leute. Und heute bekamen sie es.
Das Aufgebot an Schweinsbraten, Erdäpfelsalaten, Fleischkäse-Aufläufen, Semmelknödeln, Backhendln, Lammhaxn, Mohnstrudeln und vielem mehr, dargeboten vom Landfrauenverein, überwältigte die Pfingstmarktbesucher jedes Jahr aufs Neue. Und die Spiele – man würde sehen. Sie warf einen Blick auf ihre Wahlberaterin, die perfekt geschminkt am Steuer des Tauchschulkombis saß und anscheinend vollkommen unbekümmert durch die Sauerei fuhr, die Therese Englers Gegner und leider auch die Franzosen hinterlassen hatten. Denn das Besprühen ihrer Plakate mit immer unflätigeren Worten hörte nicht auf, Rache für das Herunterreißen der Gegner-Plakate durch Quirin, Hartl und die Franzosen. Die sofort wieder loszogen, um die besprühten Plakate zu entfernen. Und die des Gegners dazu.
»Aaalles wird sich finden, Therese. Entspann dich. Wir konzentrieren uns jetzt nuur auf die Aufführung. In aaaller Ruhe.«
Würde ihre Wahlberaterin jetzt immer so mit ihr reden, in diesem Meditationslehrerinnen-Ton? Therese war beinahe froh, als Christiane Breitners Stimme wieder um eine Oktave sank, einen strengeren Klang annahm.
»Ich hab jetzt mit allen Kreistagsmitgliedern persönlich gesprochen, wegen des Rededuells. Es sieht nicht allzu schlecht aus. Allerdings hättest du es uns schon leichtergemacht, wenn du dich nicht mit einem Push-up-BH sozusagen ins Aus geschleudert hättest. Und anschließend mit einem Mann in der Umkleidekabine erwischt worden wärst. Na, egal, alle großen Politiker haben ihre Sex-Skandale.«
»Es war kein …«
»Ich weiß. Wir schaffen das. Ich bin schon mit ganz anderen Sachen fertig geworden.«
Christiane bog auf die Mohnauer Uferstraße ein. Von weitem waren die Zelte zu sehen, die Stände mit allerlei bayerischem Kitsch und auch einigen wenigen vernünftigen Angeboten, wie zum Beispiel einer Auswahl ihrer Dirndlmodelle. Der Stand kostete hundert Euro! Zum Glück passte die patente Gina darauf auf. Kathi konnte sie damit nicht beauftragen, und ihre Tochter war nicht ans Telefon gegangen. Sie hatte nur einen sehr unfreundlichen Flantsch am Apparat gehabt, der behauptete, Susn könne gerade nicht. Dabei brauchte sie den Stand dringend, denn auch Özcan Breithuber hatte einen für seine Flatterkleider, ebenso die Yoga-Ananas-Schnoin, die neuerdings Meditationskissen und Duftlampen vertrieb. Aber noch wichtiger als ein Stand war die Präsenz auf der großen Bühne, direkt am Hafen, auf der damals schon Susn als Schneeflocke zu sehen gewesen war. Und heute würde eine bedeutende Schriftstellerin dort lesen. Eingeladen auf Betreiben der Kandidatin Therese Engler. Die für Toleranz eintrat, und sich – Kruzifix, ja! – immer wieder an die Front stellte, weil ihr Neuenthal und der Rest der Welt nicht gleichgültig waren.
Ein schüchterner Sonnenstrahl wagte sich zwischen zwei Wolken hervor, ein Sonnenfinger, der auf den Parkplatz am Mohnauer Hafen zeigte, und mitten hindurch fuhr der Citroën der Franzosen. Am Steuer saß Cedric. Und neben ihm Delphine, diese Frau, die Nacht für Nacht schuftete, um solch feine Sätze zu ziselieren wie: Seine Zungenspitze umschiffte ihre Brustwarze wie der erste Entdecker das Kap der Guten Hoffnung. Delphine winkte ihr zu, und für eine Sekunde, bevor Christiane ausgerechnet neben dem Kleinlaster von Tonis Metzgerei einparkte, glaubte Therese zu spüren, wie der Sonnenfinger sanft über das Dach ihres Wagens strich.
Regenschirme. Dort unten. Eine Masse von Regenschirmen, an denen Therese Englers Begrüßungsrede abprallen würde. Schmarrn! Sie trat näher zum Bühnenrand, auf das Mikrophon zu.
Delphine saß schon an ihrem Tisch, zierlich und erhaben, vor ihr lag ein Stapel Papier. Las sie denn nicht einfach aus ihren Büchern vor? Hier, vor der regenschirmbewehrten Menge fiel Therese Engler ein, dass sie noch nie auf einer Lesung gewesen war, und bisher hatte ihr diese Erfahrung auch nicht gefehlt. Für sie gehörte Vorlesen an ein Kinderbett, und mit einem Anflug von Bierkuchenrührung dachte sie daran, wie sie der kleinen Susn aus
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