Paarweise
Verzweiflung und seinen rührenden Bemühungen, seine Frau zurückzugewinnen.
Im Einzelgespräch mit ihr muss ich erkennen, dass sie wie eine Drogensüchtige oder wie ein freiwilliges Sektenopfer ihre Rolle gefunden hat, die sie im Augenblick am liebsten leben möchte. Kein Leidensdruck, im Gegenteil, keine Krankheitseinsicht, keine Einsicht, dass sie reale Möglichkeiten zur Lebens- und Liebesentfaltung ungenutzt verstreichen lässt, sondern vielmehr ihr Leben träumt, als ihre Träume zu leben – nichts half. Ich musste aufgeben und mich darauf konzentrieren, ihren Mann zu trösten bzw. ihm beim »Entlieben« begleitend zur Seite stehen.
Tiefenpsychologisch gesehen ist die Klientin in frühkindliche Lebensphasen regrediert, wo sie real noch keine Macht und Möglichkeiten hatte, in der Fantasie aber grenzenlos ihre narzisstischen Empfindungen ausleben konnte. Fantasien, wie jetzt mit dem inhaftierten Mann, der nur ihr gehört und der weder fremdgehen noch weglaufen kann. Endlich braucht sie keine Angst zu haben, verlassen oder betrogen zu werden.
Er wiederum ist glücklich, dass es draußen jemanden gibt, an den
er denken und schreiben kann. Eine Frau, die ihm glühende Briefe ins Gefängnis schickt, die ihn kurzfristig beglücken und um die ihn seine Mitgefangenen beneiden.
Und so steigert sie sich immer weiter hinein, bis sie ein geschlossenes Argumentations-Gebäude zusammengezimmert hat, das die Realität euphemistisch verzerrt. Sie glaubt zu sehen, wie es ist und glaubt, das Richtige zu tun. Auch wenn sie die Einzige ist. Dass er seine Freundin nicht umgebracht hat, glaubt sie ihm natürlich. Das passt gar nicht zu ihm, er ist doch sanft, liebevoll und einfühlsam. Wie eine die beiden zusammenschweißende Verschwörung gegen den Rest der Welt haben sie ihr gemeinsames Geheimnis, ihre folie à deux macht beide unnahbar für andere − die nichts verstehen. Sollte er wirklich ein Mörder sein, dann wäre er ja so etwas wie ein Gott, nämlich Herrscher über Leben und Tod. Ihr Unterbewusstsein hatte sie das bereits träumen lassen, gestand sie mir. Und sie ertappte sich dabei, diese Fantasie als sehr erotisierend empfunden zu haben. Überlagert von einer Art Schuldgefühl, das aber mehr als Gedanke von Seiten ihres moralischen Gewissens denn als Gefühl aufblitzte, dass man so etwas Grauenvolles als anständiger Mensch nicht positiv sehen dürfe.
Das Allmachts-Ohnmachts-Dilemma
Für den Menschen von heute sah der Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter das zentrale Problem im Gotteskomplex, der Illusion vom Anspruch auf egozentrische, gottgleiche Allmacht. Dieses Allmachts-Ohnmachts-Dilemma stammt aus
der scheinbaren Gottgleichheit des Menschen in einer Epoche, in der beinahe alles machbar ist – wobei freilich die Ohnmacht gegenüber nicht beeinflussbaren Tatsachen wie Alter, unheilbaren Krankheiten und Tod umso schmerzlicher empfunden wird. Die meisten Tatsachen, die Allmachtsfantasie erzeugen, sind auf ihre Art verführerisch: auf den Mond fliegen, Babys in Retorten züchten, Herzen und andere Organe auswechseln, in die Genstruktur eingreifen, bislang unbekannte Lebewesen erschaffen oder mit einem Schlag sämtliches Leben auf diesem Planeten auslöschen. Das Panik auslösende Kontrastphänomen aber zu dieser Omnipotenz ist das Ohnmachtsgefühl, das der Mensch in seiner Kleinheit meist nur in Form extremer Niederlagen oder Schmerzen vermittelt bekommt. Wäre es heute möglich, einen nach derzeitigen Maßstäben als normal geltenden Menschen in die Praxis von Dr. Sigmund Freud zu schicken, er würde wahrscheinlich als »leicht schizophren« diagnostiziert werden. Denn die Sozialisation zu einem »normalen Menschen« – damit ist der Vorgang gemeint, wie jemand sich vom ursprünglich asozialen Säugling zum verantwortungsbewussten Mitglied der Gesellschaft entwickelt – führt heute zu einem anderen Persönlichkeitstyp als in der Vergangenheit.
In der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts war das Leben zwar nicht einfacher, aber dafür klarer. Es gab Richtlinien, Orientierungen, verbindliche Normen-Systeme, die der einzelne verinnerlichte. Das aus tradierten Geboten und Verboten zusammengesetzte System gesellschaftlicher Spielregeln wurde zur Grundlage des Gewissens, des Charakters. So fühlte jeder, was gut oder böse oder gar Sünde war. Man fühlte
sich sicher und beruhigt, wenn man anständig, korrekt und tugendsam lebte.
Es scheint mir logisch, dass Eltern ihre Kinder nicht mehr verstehen
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