Pakt der Könige
der alten Frau hinüber zu machen. »Wer lebt heute auf der Burg von Miras?«, fragte er.
Die Frau, die gerade mit einer Wasserschüssel auf dem Arm durchs Zimmer ging, blieb abrupt stehen. Sie stellte ihre Last auf einem Tisch ab und musterte Arekh. »Niemand«, sagte sie schließlich. »Die Burg ist seit Jahren verlassen.«
Arekh sah langsam die Wände ringsum an. Er kannte die Antwort auf die Frage, die er als Nächstes stellen würde, aber er musste sie dennoch stellen. »Was ist geschehen?«
Die Frau strich sacht über den Rand der Schüssel und zuckte dann die Achseln mit einem Fatalismus, den Arekh schon oft bei den Sumpfbewohnern erlebt hatte. »Das weiß nur Fîr allein! Der Sohn der Familie ist plötzlich verrückt geworden. Bei einem Geburtstagsessen hat er seine Eltern und einige der Gäste getötet, bevor er geflohen ist. Ein entfernter Verwandter hat versucht, die Burg zu verkaufen, aber keiner wollte sie haben. Die Gegend hier ist nicht reich, und außerdem sind die Steine blutbefleckt …«
Arekh nickte. Neben ihm lauschte die kleine Sklavin neugierig.
»Kann man die Burg besuchen?«, fragte Arekh.
Die Frau warf ihm einen schiefen Blick zu, zögerte, nickte dann aber. »Wenn Ihr Vergnügen daran habt. Der Weg ist kaum noch gangbar. Aber wenn Ihr Eure Hose ruinieren und Eure Pferde ermüden wollt, ist das Eure Sache. Wollt Ihr jetzt dorthin aufbrechen? Es ist schon spät …«
Der Himmel hatte sich bereits verdunkelt, als sie das Wirtshaus betreten hatten. Die Temperaturen würden am Abend eisig sein.
Arekh warf einen Blick auf die Lumpen des kleinen Mädchens und schüttelte den Kopf. »Nein. Morgen. Habt Ihr ein Zimmer frei?«
Im Laufe des Abends legte sich der Regen, und die Monde gingen auf: Es war eine wunderschöne, kristallklare Nacht, wie es sie in dieser Gegend nach einem Unwetter manchmal gab. Arekh stützte sich mit den Ellbogen aufs Fensterbrett der winzigen Kammer, die ihnen zugewiesen worden war, und kämpfte gegen eine unwillkommene Erinnerung an: die an zwei kleine Jungen, die an einem schönen Sommerabend auf einer steinernen Brunnenumfassung spielten, während die friedlichen Stimmen ihrer Eltern durch das Fenster des Empfangszimmers ins Freie drangen … Doch trotz all seiner Bemühungen tanzten die Bilder vor seinen Augen, wachgerufen durch die so vertrauten Gerüche des feuchten Laubs, der Erde und des Strohs.
Nein . Er wollte nicht nachdenken. Sich nicht erinnern. Er richtete sich auf, schloss die Fensterläden, um sich vor der Nacht zu schützen, und drehte sich zum Zimmer um.
Eine Kindersilhouette hockte im Schatten am Ende des Raums, spielte auf dem Boden mit einem Wollfädchen. Und einen Moment lang legte sich das Bild von Arekhs kleinem Bruder über das der Sklavin. Arekh zögerte, ging dann auf den Nachttisch zu und zündete die Kerze an, um die Einbildung zu verscheuchen.
Das Licht der Kerze ließ die hellen Haare der Kleinen aufschimmern, und Arekh beobachtete sie einen Augenblick.
»Weißt du, warum du Sklavin bist?«, fragte er plötzlich.
Wie die andere Frau, die, deren Name ihm allein schon wehtat, schien das kleine Mädchen sich nie über seine Fragen
zu wundern. Sie runzelte die Stirn und antwortete nach einem Augenblick des Nachdenkens: »Wegen der Verdammung durch die Götter.«
»Wer hat dir das beigebracht?«
»Der Mas’tir. Wir mussten die Blauen Gebote jeden Morgen gleich nach dem Aufwachen aufsagen. Wenn wir das nicht konnten, wurden wir ausgepeitscht.«
Die Mas’tir waren Aufseher, selbst Sklaven, deren Aufgabe es war, die ihren zu überwachen und gelegentlich auch zu erziehen. Arekh wusste nicht, was die Blauen Gebote waren … sicher irgendeine Litanei, ein sarsisches Gebet, um die Mitglieder des Türkisvolks an ihre Pflichten zu gemahnen. Jeder Landstrich hatte seine eigenen Traditionen.
»Die Götter. Ja. Und warum haben sie euch verdammt?«
Das kleine Mädchen stand abrupt auf, ging zum Fenster hinüber und öffnete die Läden wieder, ohne um Erlaubnis zu bitten. Sie deutete auf die Sterne, die am dunklen Himmel zu erstrahlen begannen.
»Da«, sagte sie. »Die Rune der Knechtschaft. Meine Großmutter hat sie mir oft gezeigt.«
Der leicht bläuliche Stern, der das Türkisvolk symbolisierte, leuchtete sanft an einem tiefdunklen Himmel, umgeben von den sieben weißen Sternen, die man wie Pünktchen miteinander verbinden konnte, um eine der hundertdrei Runen der Sakralsprache zu bilden. Diese Runen durften gewöhnlich nur die
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