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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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nichts sei älter als die Zeitung des vergangenen Tages. Zitto habe eine Schwäche für unbeachtete Worte, den Stoff, aus dem sein Reich gebildet sei. Doch Pala und Giuseppe sollten sich nicht mit den Blättern aufhalten, das seien alte Kamellen. Die kleinen violettblauen Früchte – sie sahen ungefähr so aus wie Kirschen in der Haut von Pflaumen – seien wesentlich gehaltvoller. Sie schmeckten vorzüglich, wie Pala zugeben musste. Und nach der Mahlzeit fühlte sie sich seltsam beschwingt. Allerdings hielt die sättigende Wirkung nicht lange vor.
    Bei der nächsten Rast stillten die Reisenden ihren Hunger an Sträuchern, die aussahen, als habe man die Äste mit Kleister eingeschmiert und anschließend mit buntem Konfetti bestreut. »Ihr müsst ordentlich auf den Busch klopfen«, forderte Tozzo seine Begleiter auf. Als diese nicht recht verstanden, packte er im Flug die obersten Zweige mit seinen Fußkrallen und rüttelte kräftig daran. Im Nu war der Boden unter den Büschen mit kleinen weiß-roten Beeren übersät.
    Hunger mussten Pala und Giuseppe also nicht leiden und ihren Durst konnten sie an kleinen Bächen stillen, die immer wieder ihren Weg kreuzten. So kamen sie gut voran. Ab und zu tauchte Zittos Festung zwischen den Bäumen auf, was ihnen dabei half, die Richtung einzuhalten.
    »Hast du schon einmal der Besatzung eines Fischdampfers bei der Arbeit zugesehen?«, fragte Giuseppe, um an Palas Bemerkung über gekappte Netze anzuknüpfen.
    »Unser Papperla-Papagei hat neulich einen Vortrag zum Thema Seeleute gehalten.«
    »Das ist nur Konserve, Schwesterlein, nur scheinbar echt. Du musst die Wirklichkeit gesehen haben, um sie zu erkennen. Ich bin einmal mit hinausgefahren, um mir auf dem Meer für eine Seemannsgeschichte das richtige Garn zu holen. Dabei habe ich etwas Interessantes gesehen: Ein Fischernetz besteht zwar aus zahllosen Stricken, aber es wird nur von wenigen Tauen gehalten.«
    »Willst du damit sagen, wir haben schon alle Rätsel gelöst, die uns den Weg in Zittos Burg weisen?«
    Giuseppe zuckte mit den Schultern und lächelte sein Großejungenlächeln. »Ich habe dir nur etwas von Fischernetzen erzählen wollen.«
     
     
    Als die Dämmerung einsetzte, schien das Dreiergespann seinem Ziel kaum näher gekommen zu sein. Mit Palas Laune stand es nicht zum Besten.
    »Hast du Kummer?«, fragte Tozzo. Er hing plötzlich laut brummend kopfunter vor ihr in der Luft.
    »Heute ist Bürgermeisterwahl. Es fängt schon an zu dämmern und die Burg ist noch mehrere Tagesmärsche weit entfernt. Selbst wenn Zitto erst morgen oder übermorgen die Schlüssel der Stadt ausgehändigt bekommt, werden wir es wohl nicht mehr schaffen, ihn aufzuhalten.«
    »Wenn Pala sich da mal nicht täuscht«, sagte Tozzo mit einem schnorchelnden Geräusch, vermutlich ein Kichern.
    »Wie meinst du das?«
    »In Zittos Garten ist nicht nur oben, unten, breit und tief zerknäult, sondern auch gestern und morgen.«
    »Willst du damit sagen, die Zeit läuft hier anders als jenseits der Gartenmauer?«
    »Anders, ja. Tozzo weiß das. Ganz anders. Zitto zählt in seinem Garten nur die Schweigeminuten.«
    »Was soll das denn nun wieder heißen?«
    »Wenn ihr Menschen in Stille eines Verstorbenen gedenkt, wenn ihr ehrfurchtsvoll beim Anblick eines Sonnenuntergangs innehaltet oder wenn ihr stumm vor euren Papageien sitzt – wann immer es euch die Sprache verschlägt, gewinnt Zitto ein wenig Zeit.«
    »Ich kann mich noch an eine Gedenkminute in der Schule erinnern. Ein Lehrer war an einer heimtückischen Krankheit gestorben. Mir kam das Schweigen wie zwei oder drei Minuten vor, aber als ich dann nachher auf die Uhr sah, waren nicht einmal sechzig Sekunden vergangen.«
    »Siehst du, das hat Tozzo gemeint. Und genauso täuschst du dich bei der Zeit hier im Garten.«
    »Aber… Ich habe immer gedacht, jede Sekunde sei gleich lang.«
    »Wie lange hast du versucht, über Zittos Mauer zu steigen, Pala?«
    »Keine Ahnung. Eine Stunde oder sogar…«
    »Wahrscheinlich waren es nur ein paar kurze Augenblicke.«
    »Du machst dich über mich lustig.«
    »Tozzo könnte Recht haben«, mischte sich Giuseppe ein. »Deshalb hast du beim Erklimmen der Mauerkrone so gut wie keinen Fortschritt bemerkt. In Wirklichkeit bist du nie höher als ein paar Fußbreit oberhalb des Bodens gewesen.«
    »Und der Abgrund unter mir? Ich habe doch gesehen, wie tief es hinunterging.«
    »Du hast gesehen, was du glaubtest sehen zu müssen«, schnarrte Tozzo und nutzte eine

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