Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
könnte ich mich ihm nähern und doch mit jedem Schritt davon ferner fühlen.«
»Du meinst, weil dein Heimweh dich in die verkehrte Richtung lockt?« Giuseppe zog die Nase kraus. »Sei mir nicht böse, Schwesterlein, aber das klingt wie von hinten durch die Brust ins Auge. Irgendwie glaube ich nicht an eine so verzwickte Lösung des Rätsels. Das widerspricht allen klassischen Regeln.«
»Dann ist es die verkehrte Meinung über einen Menschen!«, sagte Pala mit einem Aufleuchten ihrer Augen.
Giuseppe sah sie angestrengt an, weil er das Wörtchen »über« nur als dumpfe Lücke wahrgenommen hatte. Aber dann nickte er verstehend, wobei er griesgrämig auf den Wortklauber blickte. »Das Vorurteil meinst du. Damit könntest du richtig liegen. Je länger man sich vom falschen Schein der eigenen Verblendung täuschen lässt, desto weiter entfernt man sich vom wahren Wesen einer Person. Aber wenn man seine Voreingenommenheiten hinter sich lässt, kann man sich dem richtigen Menschen nähern…« Der Geschichtenerzähler schenkte dem rostroten Schwirrer ein gequältes Lächeln. »Nichts für ungut, Wortklauber.«
»Auf die trifft das genauso zu«, widersprach Pala hitzig. »Wenn man erst damit anfängt, das Menschsein wie ein Gütesiegel nur jenen zu verleihen, die einem selbst genehm sind, dann bleiben immer welche außen vor. Tozzo hat ein gutes Herz. Allein darauf kommt es an, Giuseppe, und wenn du länger mein großer Bruder sein willst, dann gewöhne dich gefälligst an diesen Gedanken.«
»Ist ja schon gut«, wiegelte der Erzähler ab. »Man muss sich nur den hässlichen Kopf, die schlappen Arme und Beine, die Krallenfüße sowie die dürren Saugfinger wegdenken, dann ist der Kleine schon fast niedlich.«
»Das habe ich nicht gemeint, Giuseppe!«
»Ich verstehe dich schon, Schwesterchen. Es kommt nicht aufs Aussehen an. Das Herz ist entscheidend.«
»Tozzo hat ein großes Herz!«, versicherte der Kleine. »Ein riesiges…«
»Woran denken die Menschen, wenn sie den Namen Zitto hören?«, schnitt Pala ihrem neuen Berater das Wort ab. »An einen Fabrikbesitzer ohne Gewissen, der anderen nur hilft, wenn’s ihm selbst nützlich erscheint?«
»Das würde ihm gar nicht gefallen«, widersprach Tozzo.
»Natürlich, er möchte ja zum Bürgermeister gewählt werden.«
»Die Öffentlichkeit lobt ihn nicht – unter den grünen Klee«, brummte Giuseppe und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Selbst wenn sie wüssten, was für ein Gauner er ist, würde sich wohl kaum Widerstand regen. Man trachtet lieber nach dem eigenen Vorteil und versucht sich mit Zitto gut zu stellen.«
Pala schüttelte unwillig den Kopf. »Nicht wenige mögen so denken, aber schau nur einmal uns an, wir sind anders.«
»Ist es Zitto oder sind es die bohrenden Fragen in unserem Innern, die uns hierher gebracht haben, Schwesterlein?«
Pala steckte sich die Zwirbellocke in den Mund und begann daran herumzulutschen. Tozzos und Giuseppes Worte hatten aus der Tiefe ihres Bewusstseins eine Vorstellung aufgescheucht, die nun wie ein glitzernder scheuer Fisch im Meer ihrer Gedanken schwamm. Verworrene Worte der Macht … Das würde ihm gar nicht gefallen… Dies alles hatte etwas zu bedeuten. Mit einem Mal fühlte Pala etwas geschehen, ein Ruck schien durch die Welt zu gehen, eine Erschütterung, die man nur mit dem Geist wahrnehmen konnte. Das gleiche Gefühl hatte sie im Treppenlabyrinth verspürt, wenn auch nicht so heftig wie jetzt.
Als wäre dieses Hirngespinst ihr Stichwort gewesen, flüsterte sie: »Könnte Zitto ein ganz anderer sein? Nicht jemand, der nach Geld oder Macht strebt, sondern einer, der ohne Falschheit…« Sie zögerte. Es erschien ihr selbst ganz und gar abwegig, so etwas auszusprechen. Aber dann wagte sie es doch.
»Sein Herz ist durch irgendetwas vergiftet worden. Ursprünglich war er ein guter Mensch.«
Tozzo blinzelte drei-, viermal und stieß einen langen Seufzer aus.
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Giuseppe.
»Und so soll es auch sein«, beharrte Pala aufgeregt. »Er will uns gar nicht sein wahres Wesen erkennen lassen, weil er dadurch verletzlich wird. Aber ich glaube fest, er hat die Sprache – obwohl er sie uns Menschen mit allen Mitteln zu entreißen versucht – einmal mehr geliebt als alles andere in der Schöpfung…«
Wieder glaubte Pala eine Verschiebung in der Wirklichkeit zu spüren, beinahe so, als sei die Erde auf ihrem rastlosen Lauf um die Sonne ins Stolpern geraten. Forschend blickte
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