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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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sie in die Gesichter ihrer beiden Gesprächspartner, fand dort aber keinerlei Anzeichen für eine ähnliche Wahrnehmung. Waren die lärmenden Kopfschmerzen an diesem Empfinden schuld? Mit Schwindelanfällen hatte Pala wenig Erfahrung. Sie ließ ihren Blick zum Waldsaum am gegenüberliegenden Ende der Lichtung gleiten. Die Bäume standen still, nur die Wipfel bewegten sich leicht…
    »Da!«, rief sie plötzlich, sprang ungeachtet aller Paukenorchester in ihrem Kopf auf die unbeschuhten Füße und deutete ungestüm zu den Baumkronen hin. »Ich kann Zittos Burg sehen.«
    »Prächtig, prächtig!«, jubilierte Tozzo, der irgendwo über ihr schwirrte.
    Auch Giuseppe war aufgestanden, blickte in die besagte Richtung und schüttelte ungläubig den Kopf. Über den Wipfeln sah er doch tatsächlich in weiter Ferne einen hohen Berg, auf dem der Turm und die vertrauten Umrisse der Zitadelle zu sehen waren. »Allmählich beginne sogar ich an die eigenartigen Naturgesetze dieser Gartenwelt zu glauben.« Ein füchsisches Grinsen schlich sich auf sein Gesicht. Ohne den Blick von der fernen Festung zu nehmen, sagte er: »Pala?«
    »Ja?«
    »Irgendwie scheinst du ihm Leben eingehaucht zu haben.«
    »Wem?«
    »Dem letzten Terzett vom Baptisteriumsonett.«
    Einen Moment lang konnte Pala mit der rätselhaften Bemerkung ihres Freundes nichts anfangen, aber dann meldete sich ihr reimvernarrtes Gedächtnis und die Schlussstrophe des Taufhausgedichtes fiel ihr wieder ein.
     
    Erst Feindes Schliche kenn’n, ihn dann ertappen:
    Mit diesem Plan kann Freunden doch gelingen,
    das Netz von Ichsucht, Stolz und Neid zu kappen.

 
     
     
Das Netz von Ichsucht, Stolz und Neid zu kappen,
ist schwer und mancher mag dabei erschlaffen.
Obwohl im Wortgespinst nur Lücken klaffen,
wird man verstrickt und Haien schnell zum Happen.
 
Die falschen Freunde sind wie Pappattrappen,
betörend reden sie wie eitle Laffen.
Gibst du nicht Acht, wirst selbst bald zum Schlaraffen,
im Müßiggang in jede Falle tappen.
 
Doch Worten, die aus reiner Seele kommen,
muss selbst der Lügenfürst mit Geifer weichen.
Durch ihre Macht wird seine weggenommen.
     
    Bedachte Worte gold’nen Schlüsseln gleichen,
    denn aus verschloss’nen Herzen freizukommen
    gelingt nur den an Wahrheitsworten Reichen.

 
    Das Netz von Ichsucht, Stolz und Neid zu kappen, erfordert so manchen Schnitt, sonst wäre es ja nur eine Angelschnur«, gab Pala zu bedenken. »Wir haben zwar Zittos Burg wieder entdeckt, aber noch sind wir nicht da.«
    »Wie wahr, wie wahr, wir sind nicht da!«, erhob sich Tozzos sägende Stimme zu einem höchst fragwürdigen Gesang. Er schwirrte, je nach Astdichte, mal höher, dann wieder tiefer vor ihnen her.
    Pala lief barfüßig an der Seite ihres Freundes. Im Sommer entledigte sie sich oft und gerne ihres Schuhwerks, weshalb sie den Verlust desselben mehr als leicht ertrug – ihre Ballerinaschuhe waren im Fluss geblieben und trieben nun vermutlich ins Nirgendwo dieses verwunschenen Gartens.
    Das bunt gemischte Grüppchen folgte einem mit Laub und braunen Nadeln bedeckten Waldweg. Auf die Frage nach größeren Tieren, die den Trampelpfad mit ihren Hufen oder Tatzen geebnet haben könnten, reagierte der Wortklauber seltsam nervös. Beim Einsammeln flüchtiger Worte falle leider eine Menge Unrat ab, sagte er, und was Zitto daraus erschaffe, sei nicht selten Furcht erregend. Anderes habe er dagegen wohl hauptsächlich zur Bereicherung seines Speiseplanes ausgedacht: Lippenbären und Brüllaffen, die in den Wäldern lebten, Tauben, Krähen und sonstiges Geflügel, Seezungen, Stichelinge wie auch andere Wasserbewohner, zudem eine Unmenge von Krabbelwesen jeder Größe. Doch was gejagt werde, sei meistens scheu. Selbst er, Tozzo, bekomme von diesen seltenen Geschöpfen nur gelegentlich eines zu Gesicht.
    Dem konnte Pala nur beipflichten. Überhaupt drängte sich ihr zunehmend der Eindruck auf, durch ein riesiges Landschaftsgemälde zu spazieren, in dem es außer Pflanzen kaum Lebendiges gab.
    Wenigstens waren viele der Gewächse genießbar. Vor einiger Zeit hatten die Wanderer einen Hain durchquert, den Tozzo als »Blätterwald« bezeichnete. Der Sinn hinter dem schlichten Namen erschloss sich dem Betrachter erst beim genaueren Hinsehen: Das weiße Laubwerk war mit feinen Reihen winziger Buchstaben bedeckt, beinahe so, als sei es mit der Schere aus dem Silencia-Boten ausgeschnitten worden. Als der Wortklauber Palas weit aufgerissene Augen bemerkte, schnarrte er fröhlich,

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