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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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ebendieser Vers aus der Heiligen Schrift wieder eingefallen.«
    »Du möchtest dich doch jetzt nicht mit dem Allmächtigen gleichsetzen?«
    »Wie kommst du darauf? Dieser Garten hier ist nur ein winziger Teil von dem unermesslichen Universum, das er geschaffen hat, aber zugleich ist er eine eigene kleine Welt.«
    »Und nun willst du mir erklären, warum das so ist?«
    Palas Gesicht glühte vor Aufregung. Sie schüttelte ihren zur Seite geneigten Kopf und lachte. »Hast du Tozzo gestern nicht zugehört, Giuseppe? Es liegt an den Worten! Sie sind der göttliche Funke, der in uns Menschen glüht. Wenn wir ihn entfachen, können wir bis in alle Ewigkeit Neues schaffen. Im Garten unserer Phantasie gibt es keine Mauern. Wenn wir nur wollen, dann ist er unendlich groß.«
    »Du sprichst wie ein hundertjähriger Geschichtenerzähler«, wunderte sich Giuseppe. »Mein Vater hat übrigens einmal etwas ganz Ähnliches zu mir gesagt.«
    Pala zog den Kopf zwischen die hochgereckten Schultern und schmunzelte. »Dann muss es wohl stimmen. Und nun wollen wir etwas ausprobieren, etwas Neues. Ist dir hier schon irgendein bekanntes Lebewesen aufgefallen?«
    »Kein einziges. In diesem Garten kreucht und fleucht ohnehin nur wenig Getier herum. Seine Bewohner scheinen, wie Tozzo ja meinte, sehr oft in Zittos Kochtöpfen zu landen.«
    Der Wortklauber schüttelte sich. »Ja-ja-ja, er frisst sie, zieht ihnen das Fell ab, lauter grässliche Dinge stellt er mit ihnen an…«
    »Du hattest Tauben und Krähen erwähnt«, unterbrach Pala das herzerweichende Gejammer. »Sehen die genauso aus wie jenseits der Gartenmauer?«
    »Tauben sind taub und Krähen krähen – aber sonst haben sie mit euren Vögeln wenig gemein.«
    »Das dachte ich mir. Hier leben nur Kreaturen, die es in der übrigen Welt nicht gibt. Pferde und Esel scheiden damit als Träger aus. Wir brauchen ein Phantasiegeschöpf. Ich schlage vor, wir nehmen zwei Antilowen.«
    Zur Unterstreichung ihres Ansinnens machte Pala eine wedelnde Bewegung mit der linken Hand. Sie hielt diese Geste nicht wirklich für erforderlich, aber der Situation durchaus angemessen. Kaum hatte sie die letzte Silbe ausgesprochen, begann vor den beiden vom Boden ein goldenes Glitzern aufzusteigen, bis etwa zur Schulterhöhe eines Brauereipferdes. Für kurze Zeit funkelte und flimmerte die lichte Wolke hinreißend schön. Bis zu diesem Moment war die Wortschöpfung völlig geräuschlos vonstatten gegangen, was den nun folgenden, lang gezogenen Zischlaut besonders eindringlich zur Geltung brachte. Anschließend standen zwei Antilowen neben der Feuerstelle.
    Tozzo schoss erschrocken in die Höhe.
    Ein bisschen Furcht einflößend waren die von Pala erschaffenen Reittiere schon. Die Antilowen besaßen ein bernsteinfarbenes, an den hinteren Flanken wie bei einem Zebra gestreiftes, wunderbar glänzendes Fell, verfügten über scharfe Krallen und ein stattliches Gebiss. Sie waren geschmeidig und stark wie Löwen, aber langbeinig und schnell wie Antilopen. Von den Ersteren hatten sie eine dichte Mähne und ihre Jagdausrüstung, von den Letzteren die Lauffreude. Zumindest ihre langen Schweife erinnerten, wenn man von der braun-weißen Ringelung einmal absah, an Pferdeschwänze. Zwei Sättel samt Taschen und Reitgeschirr waren dem Antilowenpaar bereits umgeschnallt. Schon früher hatte Pala sich gerne Phantasietiere ausgedacht, aber diese beiden Exemplare hielt sie für besonders gelungen.
    Giuseppe verhielt sich auffällig ruhig. Seine Nasenflügel blähten sich, als suche er nach verdächtigen Gerüchen, sonst zeigte er keine erkennbaren Bewegungen. Nach einer Weile wagte er ein gequältes Lächeln. »Ganz nett, Schwesterchen. Werden sie uns nicht die Köpfe abreißen?«
    »Ich habe sie mir sehr folgsam vorgestellt.«
    »Und dabei auch an mich gedacht?«
    »Lass mich nachdenken…« Pala tat so, als krame sie in ihrem Gedächtnis nach verschütteten Erinnerungen, aber bald konnte sie sich das Grienen nicht mehr verkneifen. »Keine Sorge, die sind lammfromm.«
    »Auch zu Wortklaubern?«, meldete sich eine Stimme weit über ihnen.
    »Nur zu dir, Tozzo.«
    Giuseppe schnupperte immer noch in Richtung der Antilowen. »Was war das vorhin für ein Geräusch?«
    Pala zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Möglicherweise die Luftverdrängung, als sie plötzlich aus dem Nichts entstanden sind.«
    »Und du bist sicher, es hat keine anderen Ursachen?«
    »Jedenfalls keine gesundheitsgefährdenden.«
    Pala und Giuseppe näherten sich

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