Paladin Project. Renn um dein Leben (German Edition)
mehr als nur um die Sprache. Es handelt sich um eine völlig andere Kultur. Eine Kultur, die jedem, der ihr zum ersten Mal begegnet, äußerst seltsam erscheint.«
»Ist es so offensichtlich?«, fragte Will beschämt.
»Ich will Sie nicht kritisieren, Mr West. Ich habe Ihre Fächerauswahl gesehen. Sie hatten Geometrie und nur ein Jahr Biologie. Weder Chemie noch Algebra. Das wirft Sie weit zurück. Ich habe auch gelesen, dass Ihr Vater in der Forschung arbeitet.«
»Ja, Sir. Neurobiologie.«
»Und von seinem naturwissenschaftlichen Interesse hat nichts auf Sie abgefärbt?«
»Bis vor ein paar Jahren wusste ich nicht einmal, womit er sein Geld verdient.«
»Also bringt er seine Arbeit nie mit nach Hause oder spricht mit Ihnen darüber?«
»Nein, das hat er nie getan«, erwiderte Will. Dann erinnerte er sich, dass er lieber in der Gegenwart sprechen sollte, und korrigierte sich: »Er redet nie über seine Arbeit.«
»Das überrascht mich. Die Neurobiologie ist ein aufregender Fachbereich«, sagte der Lehrer begeistert. »Jede Menge Entdeckungen und hochinteressante Themen. Ich hätte angenommen, dass Sie zumindest ein gewisses Interesse geerbt hätten.«
»Vielleicht habe ich das ja und weiß es nur nicht. Vielleicht ist es nur ein rezessives Gen.«
Geist lachte. »Dann wissen Sie ja doch ein wenig über unser Thema.«
Will hielt Daumen und Zeigefinger ein paar Millimeter auseinander.
»Also, ich glaube fest daran, dass es sehr sinnvoll ist, einen Blick auf eine Landkarte zu werfen, bevor man ein fremdes Land besucht. Und genau das werde ich jetzt tun: Ihnen eine Karte erstellen. Bildlich gesprochen.« Geist führte Will zu einer leeren weißen Wandtafel.
Will war dankbar, dass der Lehrer auf seine Unwissenheit so verständnisvoll reagierte, im Gegensatz zu Professor Sangren, der ihn vor der gesamten Klasse bloßgestellt hatte.
Nachdem Geist einen kleinen Schalter an einem elektronischen Stift betätigt hatte, strömte Licht aus ihm heraus und die Tafel wurde heller. »Genetik«, setzte Geist an. »Vom gleichen Wortstamm abgeleitet wie Genese, ›Entstehung‹. Der Anfang aller Dinge. Der wissenschaftliche Zweig, in dem wir die zwei Faktoren für die Entwicklung lebender Organismen studieren: Vererbung und Variation. Merkmale sind entweder von biologischen Vorgängern vererbt – unsere Eltern und Vorfahren – oder durch eine Reihe von Faktoren in der Natur beeinflusst.«
»Natur oder Kultur«, folgerte Will.
»Genau! Die philosophischen Gegensätze, die unsere wissenschaftliche Disziplin definieren.« Geist bediente den elektronischen Stift, ließ irgendwie die Worte Schicksal und Natur auf einer Seite der Tafel erscheinen und zeichnete einen Kreis um sie herum.
»Hier …«, setzte er an und tippte auf den Kreis, »stellt man sich Vererbung als eine Art Bestimmung vor. Das, was die Griechen Los nennen. Alles, was uns im Leben widerfährt, ist vorherbestimmt, weil die Definitionen unseres Charakters im Vorhinein durch die Grenzen dessen festgelegt sind, was in unserem individuellen genetischen Code verankert ist. Dagegen haben wir hier drüben das andere Extrem …« Auf der anderen Seite der Tafel ließ Geist das Wort Kultur erscheinen, fügte dann freier Wille hinzu und umkringelte die Worte. »… welches davon ausgeht, dass Menschen absolute Autonomie besitzen, was ihre Entwicklung betrifft. Dahinter verbirgt sich die Vorstellung, dass wir uns, als einzigartige Wesen, durch die Entfaltung unseres Charakters im Leben zu dem entwickeln, wofür wir uns entschieden haben, und zwar ungeachtet dessen, was in unserem Code steht. Einfach ausgedrückt, bestimmen diese beiden Positionen und alles, was zwischen ihnen liegt, die Koordinaten unserer Landkarte.«
»Das leuchtet mir ein«, sagte Will.
»Gut. Wo, glauben Sie, finden wir objektive wissenschaftliche Wahrheit?«
»Irgendwo in der Mitte?«
»Sehr richtig.«
Geist drückte erneut auf seinen elektronischen Stift und die Mitte der Tafel öffnete sich wie ein Fenster zu einem dreidimensionalen Aquarium. Eine Grafik zweier bunter, miteinander verschlungener DNA-Stränge schwebte im Raum. Um sie herum erschienen Gruppen animierter Kästchen, angefüllt mit Buchstaben und Symbolen, die auf verschiedene Abschnitte der Stränge zeigten.
»Der genetische Code des Menschen«, erklärte Geist. »Der Bauplan des Lebens. Er enthält über 24.000 einzelne Gene und drei Milliarden chemische Basenpaare, von denen jedes 30.000 Variationen hervorbringen kann.
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