Paladin Project. Renn um dein Leben (German Edition)

er sich wieder: RegelNr. 87: MÄNNER WOLLEN GESELLSCHAFT, FRAUEN WOLLEN MITGEFÜHL.
    »Hast du Ronnie je gesagt, was du wirklich für ihn empfindest?«, fragte er leise.
    »Natürlich nicht«, erwiderte Elise und drehte eine Haarsträhne zwischen den Fingern.
    »Und das kannst du dir nicht verzeihen.«
    »Ist das so offensichtlich?«
    »Irgendwie schon.«
    »Irgendwie ist das eine blöde Frage.«
    »Ich glaube, wir haben alle ein Pokerface, meinst du nicht?«, überlegte Will.
    Elises Blick wurde sanfter; sie zückte ein imaginäres Messer, rammte es sich in die Brust und fiel nach vorn. Will lachte. Kurz darauf musste sie ebenfalls lachen. Dann rappelte er sich auf und streckte eine Hand aus. Als er sie hochzog, standen sie einander ganz nah gegenüber.
    Plötzlich war Will wie gelähmt. Eine Art farbiger Lichtstrahl schoss aus ihren verwirrenden Augen und durch ihn hindurch, als bestünde er aus Glas. In diesem Moment hätte sie ihm befehlen können, eine Bank auszurauben oder von einem Wolkenkratzer zu springen, und er hätte es, ohne nachzudenken, getan. Er konnte sich ihr nicht entziehen, wollte es in diesem Augenblick auch gar nicht.
    »Vielleicht weiß ich ja, auf welche Art und Weise Ronnie es dir mitteilen wollte«, sagte er. »Komm mit.« Er nahm sie bei der Hand und führte sie in Ajays Zimmer.
    Als sie den Raum betraten, schaute Brooke vom Schreibtisch auf und sah, dass sie sich an den Händen hielten. Will kam sich vor, als sei er beim Taschendiebstahl erwischt worden. Sofort ließ er Elises Hand los und Brooke schaute schnell weg.
    Nick hatte für alle Stühle bereitgestellt. Elise setzte sich neben Ajay, vor das animierte Bild des Berges auf dem Wandbildschirm. In der halben Stunde seit ihrem Aufbruch waren die Syn-Apps bis zum Gipfel geklettert und standen nun auf einem schmalen Felsvorsprung über dem höchsten Wasserfall. Die Figuren winkten Will und Elise zu, als sie näher kamen.
    »Was ist das?«, fragte Elise.
    »Dieses Bild war auf dem USB-Stick, den Ronnie in seinem Zimmer versteckt hat«, erklärte Will. »Ich habe ihn heute Morgen gefunden.«
    »Und ich habe unsere Syn-Apps reinkopiert«, ergänzte Ajay. »Wir glauben, dass Ronnie etwas in der Datei versteckt hat; die Doppelgänger versuchen, es zu finden. Heranzoomen«, befahl er.
    Der Felsvorsprung, auf dem die Figuren standen, wurde vergrößert.
    »Geht jetzt weiter«, befahl Ajay den beiden. »Folgt dem Pfad.«
    Als die Syn-Apps um die Ecke bogen, tauchte eine friedliche grüne Lichtung vor ihnen auf. Bunte Wildblumen blühten im hohen Gras, das in der Brise hin und her wogte. Vor einer Pagode, die direkt in die Wand eines steilen Felsens gebaut war, sah man einen Teich.
    »Was ist das für ein Ort?«, fragte Elise.
    »Ich sage das den beiden schon die ganze Zeit«, merkte Nick an. »Sie sind in Shangri-La.«
    Die Figuren betraten eine Brücke aus Bambus, überquerten den Teich, in dem weiß und golden funkelnde Kois träge umherschwammen, und stiegen dann die Treppe zu dem imposanten doppelflügeligen Tor der Pagode hinauf. Das Tor öffnete sich und zwei menschliche Gestalten in langen weißen Kitteln traten heraus, bevor sich das Tor hinter ihnen wieder schloss.
    »Wer sind diese Typen?«, wunderte Will sich.
    »Sie sehen aus wie Ärzte«, fand Brooke.
    »Los, geht hinein«, verlangte Elise.
    »Versuchen wir es doch mal«, meinte Will und befahl den Doppelgängern: »Eintreten.«
    Doch als die Syn-Apps einen Schritt vorwärts machten, verschränkten die Ärzte die Arme und blockierten das Tor. Daraufhin versuchten die Syn-Apps seitlich an ihnen vorbeizukommen, aber die Docs versperrten ihnen jedes Mal den Weg.
    »Loser«, meinte Nick. »Muss etwa ich da reinspringen und ihnen an eurer Stelle in den Hintern treten? Ich hol schnell meinen Zwerg …«
    »Setz dich hin und halt den Mund«, befahl Brooke.
    »Lies diesen einen Abschnitt aus dem Jahrbuch noch mal vor«, bat Ajay.
    Will nahm das Buch vom Schreibtisch: »›Umarme das Paradox. Suche nach Mustern. Beethoven hat den Schlüssel, aber er weiß es noch nicht. Im Inneren deines Shangri-Las könnten sich die Tore der Hölle verbergen.‹«
    »Das hat Ronnie geschrieben«, sagte Elise.
    »Ja«, bestätigte Will.
    »Wir glauben, dass er das alles hier entwickelt hat«, erklärte Ajay. »Es ist wie eines seiner Spiele.«
    »Das ist mehr als nur ein Spiel.« Elise rückte näher an den Bildschirm heran. »So hat er die Welt gesehen: ein Labyrinth aus miteinander verwobenen Geheimnissen.