Paladin Project. Renn um dein Leben (German Edition)
gedrungen und kräftig. Ein wilder, dichter grauer Haarschopf rahmte seinen Kopf. Sein Gesicht war von Sorgenfalten durchzogen und er schaute ernst, fast gequält. Offenbar bemerkte er sie nicht, denn seine leuchtenden stahlblauen Augen starrten in die Ferne.
»Wisst ihr, wer das ist?«, fragte Ajay.
Will hatte dieses Gesicht auf Dutzenden von Plattenhüllen aus der Sammlung seiner Eltern gesehen. »Ludwig van Beethoven«, erklärte er.
»Oh mein Gott«, rief Nick. »Der Typ, der die Nationalhymne komponiert hat!«
»Beethoven hat nicht …«, setzte Brooke an.
»Lass es. Das bringt nichts«, meinte Ajay.
»Das letzte Rätsel«, fuhr Brooke fort und las dann aus dem Jahrbuch vor: »›Beethoven hat den Schlüssel, aber er weiß es noch nicht.‹«
»Dann sag es ihm«, trug Ajay seinem Double auf.
»Guten Tag, Herr Beethoven«, sagte die kleine Ajay-Figur auf dem Bildschirm und verbeugte sich höflich. » Dürfen wir Sie kurz sprechen?«
»Deine Kopie spricht Russisch?«, staunte Nick bewundernd.
»Ich spreche Deutsch«, korrigierte Ajay ihn.
Aber Beethoven reagierte nicht, schaute sie nicht einmal an.
»Er kann euch nicht hören«, erklärte Brooke. »Er ist doch taub.«
»Kann dein kleiner Kumpel Zeichensprache, Ajay?«, fragte Nick und schlug sich dann an die Stirn. »Was rede ich da? Zeichensprache war damals ja noch gar nicht erfunden.«
Plötzlich stand Brooke auf und fragte: »Spielt einer von euch beiden Klavier?«
»Ein bisschen«, sagte Ajay bescheiden.
Brooke beugte sich vor und summte ihm eine Melodie ins Ohr. Sie sahen einander an.
»Und jetzt?«, hakte Ajay nach.
»Sag ihm, er soll es nach Gehör spielen«, antwortete Brooke.
Ajay wandte sich an seine Syn-App: »Spiel das auf dem Flügel.« Dann summte er leise die Melodie, woraufhin sein Doppelgänger zur rechten Seite des Instruments ging und die Noten spielte.
Dah-di-dah-di-dah-du-di-da-da …
Elise schnappte nach Luft und schlug die Hände vors Gesicht, als ihr Tränen in die Augen schossen.
Beethoven wurde lebendig und sein Gesicht hellte sich auf, als wäre er von irgendetwas inspiriert worden, nachdem er die Noten im Geiste »gehört« hatte. Er legte seine rechte Hand auf die Tasten, wiederholte die Melodie und nahm beim dritten Takt die linke Hand hinzu. Gleichzeitig erschien jeder von ihm gespielte Ton als Note auf dem Papier, als würde er sie aufschreiben.
»Das habe ich schon hundert Mal gehört«, sagte Will.
»Es ist eine seiner berühmtesten Kompositionen«, bemerkte Ajay.
»Kann sein«, meinte Nick enttäuscht. »Aber das ist ganz bestimmt nicht die Nationalhymne.«
»Nein«, meldete Elise sich zu Wort und wischte sich eine Träne weg. »Es heißt ›Für Elise‹.«
»Für Elise«, wiederholte Brooke und warf Will einen Blick zu.
Beethoven spielte weiter und plötzlich wurde er von einem vollen, aber unsichtbaren Orchester begleitet. Die Wand vor dem Flügel verwandelte sich in die Tür eines gewaltigen Banktresors mit komplizierten Schlössern, Riegeln und dampfbetriebenen Mechanismen.
Die Noten der Melodie stiegen vom Notenpapier auf, als seien sie lebendig, schwebten auf den Tresor zu und strömten in einen Schlitz ungefähr in der Mitte des Tresors. Sofort setzten sich mehrere Mechanismen und Hebel in Gang, Bolzen gaben nach, Dampfstrahlen zischten, Räder drehten sich, ein Riegel wurde mit einem dumpfen Geräusch zurückgezogen – und dann öffnete sich langsam die Tür.
»Beethoven hat den Schlüssel«, sagte Brooke leise.
In diesem Augenblick trat Ronnie Mursos Syn-App durch die Tür.
RONNIE
Beunruhigt wichen die Syn-Apps vor Ronnie zurück. Elise trat näher an den großen Bildschirm heran, während sich die anderen hinter sie stellten. Ronnie blinzelte und schaute sich um, verwirrt und desorientiert. Für Will sah er genauso aus wie auf dem Foto im Jahrbuch, nur dass das strohblonde Haar von Ronnies Doppelgänger verfilzt und sein Gesicht schmutzig war. Seine Kleidung wirkte abgerissen und verdreckt und die Hose hatte Löcher an den Knien.
»Ronnie?«, flüsterte Elise ungläubig.
Die Syn-App blickte auf, entdeckte Elise und wich verängstigt zurück.
»Ronnie, weißt du, wo du bist?«, fragte Elise.
Er schüttelte den Kopf.
»Weißt du, wer du bist?«, fragte sie sanft.
Ronnies Double zögerte, schüttelte dann aber wieder den Kopf.
»Was ist mit ihm los?«, erkundigte Will sich leise bei den anderen.
»Keine Ahnung«, gestand Ajay. »Ich habe noch keine Syn-App gesehen, die sich so
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