Palast der blauen Delphine
»Wie konntest du ihm nur von uns erzählen?« fuhr sie ihn zornig an. »Weißt du überhaupt, wen du dir da zum Busenfreund erkoren hast? Einen Mann, der keine Frauen mag!« Ihre Stimme war schrill geworden. »Wie er dich hassen muß! Du verkörperst all das, wonach er sich vergeblich sehnt – du bist ein richtiger Mann!«
»Du kennst Ikaros nicht«, versuchte Asterios einzulenken und streichelte ihre Wange.
Sie wich zurück. »Und ob ich ihn kenne! Seit Jahren weiß ich, daß er Frauen verachtet und nur Männer begehrt.« Sie packte Asterios und grub ihre Nägel so fest in seinen Arm, daß er aufschrie. »Ist er der Grund dafür, daß du dich die ganze Zeit von mir ferngehalten hast?« fragte sie lauernd. Ihr Gesicht wirkte plötzlich hart. »Bist du der Nachfolger meines Bruders in seinem Bett?«
Ikaros schüttelte stumm den Kopf und wandte sich ab.
»Ariadne, ich bitte dich«, versuchte Asterios sie zu beruhigen und machte sich los.
»Weder Bitten noch Flehen haben genutzt«, fuhr sie fort und schaute alarmiert zwischen den beiden Männern hin und her. »Keine Ausnahme für die Tochter der großen Königin! Nach Meropes Totenfeier hat Pasiphaë mich zum Tempeldienst auf dieser Insel gezwungen, um mich bei lebendigem Leibe zu begraben. Ikaros war in jener Nacht am Hafen, wußtest du das, Asterios? Er sah zu, wie man mich auf das Schiff nach Strongyle gebracht hat. Niemals werde ich sein zufriedenes Gesicht vergessen!«
»Es war viel zu dunkel«, antwortete Ikaros ruhig. »Lange vor Sonnenaufgang. Du konntest nichts erkennen.«
»Meinst du denn, ich bin blind und taub? Glaubst du, ich hätte den ganzen Abend vor meiner Abfahrt deine aufgeregten Blicke und Gesten nicht bemerkt? Du konntest mein Verschwinden ja kaum erwarten!« Mit beiden Fäusten trommelte sie Asterios auf die Brust. »Sag mir die Wahrheit! Ist er dein Geliebter?«
Mit einem Satz war Ikaros hinter ihr und schüttelte sie unsanft, bis sie endlich innehielt. »Er hat nichts verraten!« rief er. »Und er liebt nur dich! Du warst es, die meinen Verdacht bestätigt hast, mit deinen lüsternen Blicken. Sei froh, daß die anderen schon so viel getrunken hatten und deine Mutter krank vor Trauer war. Sonst wäre dein Geheimnis längst aufgeflogen!«
Athenai
Auf einem ovalen Fundament stand eine steinerne Skulptur der Pallas Athene. Mit der Linken stützte sie sich auf ihren Schild, vor dem sich eine furchterregende Schlange wand. Kleinere Schlangen kringelten sich auf ihrem Brustpanzer; merkwürdige Gestalten, halb Mensch, halb Tier, bedeckten ihren Helm. Majestätisch blickte die Göttin über das Stadion. Der kalte Nordwind der letzten Tage hatte sich gelegt. Nun schien die Frühlingssonne wieder, wenn auch die Wege noch voller Pfützen waren und Regentropfen auf den umstehenden Bäumen glitzerten. In wenigen Augenblicken sollte der sportliche Wettkampf zwischen Kretern und Athenern weitergehen. Minos war bester Laune. Bislang war alles nach Plan verlaufen.
Erwartungsgemäß hatte Aigeus einige Tage verstreichen lassen, bevor er sich in Begleitung Theseus’ wohl oder übel in die Gemächer der Kreter bemüht hatte. Ein Blick auf die trotzig niedergeschlagenen Augen und die malmenden Kiefer des Thronfolgers hatte Minos genügt. Es waren nicht viele Worte nötig gewesen, bis Theseus die nächste Beleidigung entschlüpft war. Minos hatte das Gespräch beendet und den Befehl zum sofortigen Aufbruch gegeben.
Schreckensbleich hatte Aigeus ihn zum Bleiben beschworen und einen Wettkampf vorgeschlagen, um die Gastfreundschaft zu festigen. Minos hatte nach längerem Zögern eingewilligt, nicht jedoch, ohne neue Bedingungen zu stellen: Da die Beleidigung öffentlich war, müsse die Entschuldigung ebenfalls in der Öffentlichkeit erfolgen.
Minos lächelte, als er daran dachte. »Lieber sterben«, hatte Theseus beim Verlassen des Zimmers gemurmelt. Er war gespannt, wie der junge Heißsporn sich aus der Affäre ziehen würde.
Inzwischen waren die Läufer am Start; drei Kreter, drei Athener, alle barfuß und im kurzen Chiton. Beim Knall der Peitsche setzten sie sich mit langen Schritten in Bewegung. Seron, einer von Aiakos Lieblingsschülern, übernahm sofort die Spitze. Er lief so schnell, daß seine Verfolger hinter ihm immer weiter zurückfielen. Einmal nur sah er sich um und stellte fest, daß der Abstand zu dem attischen Favoriten sich noch vergrößert hatte. Unangefochten ging er als erster durchs Ziel.
Diskuswerfen war die nächste Disziplin.
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