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Palast der blauen Delphine

Titel: Palast der blauen Delphine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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Definition von Schönheit oder Vollkommenheit nur ein hilfloser Versuch ist, etwas zu begreifen, was sich nur bis zu einem gewissen Grad begreifen läßt.« Seine Stimme klang erregt. »Warum glauben wir Menschen, die Welt sei allein für uns geschaffen? Ist dir nicht auch schon manchmal in den Sinn gekommen, daß wir vielleicht nur kleine Bausteine eines unendlich Großen sind – unwichtig und vergänglich?«
    »Du meinst, nur Zuschauer, ohne Einfluß auf das Geschehen?« sagte Asterios. Ihm wurde schwindelig bei dieser Vorstellung.
    »Ja, eine Art Zaungäste«, bekräftigte Ikaros. »Das heißt natürlich nicht, daß wir deshalb von verantwortlichem Handeln entbunden wären. Aber das betrifft nur unser eigenes Leben. Daß wir durch unser Tun am Lauf der Welt etwas ändern könnten, das bezweifle ich immer mehr.«
    »Ist es das, was dich so einsam macht?« fragte Asterios vorsichtig.
    »Das und das Fremdsein in vielerlei Beziehung – als Mann, als Flüchtling, als Sohn.« Er sah ihn eindringlich an. »Du bist mir ausgewichen! Hast du solche Angst vor diesem Thema?«
    »Mir wird unbehaglich bei dem, was du sagst«, räumte Asterios ein.
    »Verzeih mir meine seltsamen Anwandlungen«, bat Ikaros. Er stand schnell auf, als ob er sich plötzlich schämte. »Ich bin nur ein Heimatloser, der seine Hirngespinste feilbietet, um gut gelitten zu sein.«
     
    Eine einzige Mauer stand noch. Der Rest des Tempels war nur ein wüster Haufen Steine, zwischen denen noch Reste des Holzgerüstes steckten. Zerstört war auch das Herz des nahegelegenen Kultplatzes, die kreisrunde Orchestra, die man zum Schutz vor Winden in einer Mulde errichtet hatte, und die von Ahorn- und Granatäpfelbäumen umstanden war. Jetzt durchzogen tiefe Risse die Marmorplatten; häßliche Zacken durchschnitten die Bänder der Spirale, die in dunklerem Stein eingelegt gewesen war. Geborsten waren auch die Paradoi, zwei schmale Gänge, durch die die Tänzerinnen vom Tempel zur Orchestra gelangten. Die niedrigen hölzernen Tribünen, die das Halbrund umstanden, waren ebenfalls zersplittert. Den traurigsten Anblick aber bot der Altar. Er sah aus, als habe ein Blitz ihn in der Mitte gespalten.
    Bedrückt stiegen die Freunde zwischen den Trümmern umher. »Es ist, als habe sich der Berg bei seinem schrecklichen Erwachen ganz auf dieses Heiligtum konzentriert«, meinte Ikaros schließlich.
    »Wenigstens scheint das Haus der Frauen weitgehend verschont geblieben zu sein.« Asterios’ Stimme klang deprimiert. Das U-förmige Gebäude stand ein ganzes Stück abseits. »Das Dach ist jedenfalls noch intakt. Lediglich ein Pfeiler der Veranda ist eingebrochen.«
    Eine Frauengestalt näherte sich ihnen. Ungefähr auf der Hälfte der Strecke blieb sie stehen und hielt die Hand über die Augen. Dann beschleunigte sie ihre Schritte.
    »Asterios!« Er stand wie vom Donner gerührt, als er ihre Stimme hörte. »Asterios! Endlich! Endlich!«
    Dann war sie in seinen Armen. Er hielt sie fest umschlungen und spürte ihre Wärme, die seinen Körper wieder lebendig werden ließ, ihre Sanftheit, die die Leidenschaft lang entbehrter Nächte heraufbeschwor. Vorbei waren die einsamen Tage im Heiligtum, das lange Fasten, die Gebete, in denen er die Göttin beschworen hatte, seine Liebe zu Ariadne sterben zu lassen, um seine innere Ruhe wiederzufinden. Es war alles umsonst gewesen. Er wußte es in diesem Augenblick, da er ihr gegenüberstand. Er würde ihr immer gehören.
    »Zwei Jahre!« murmelte sie an seinem Hals und bedeckte ihn mit kleinen Küssen. »Eine Ewigkeit!«
    »Ariadne!« flüsterte er erstickt. »Meine Ariadni!«
    »Wie schön du geworden bist!« fuhr sie fort und streichelte seine Stirn und sein braunes Haar, das fest und störrisch war wie immer. »Wie stark und männlich! Versprich mir, mich nie wieder zu verlassen!«
    »Alles, was du willst«, flüsterte er und verschloß ihre Lippen mit einem langen, hungrigen Kuß.
    Als sie sich von ihm gelöst hatte, als sie zerzaust und strahlend neben ihm stand, fiel ihr Blick auf Ikaros, der diskret zur Seite geblickt hatte. Sie erstarrte.
    »Es ist nur, weil ich ihn so lange nicht gesehen habe«, begann sie zittrig. »Weil sein Anblick mein Heimweh geweckt hat … wie hätte ich ahnen sollen, daß ausgerechnet du mit ihm hier …«
    »Wir müssen uns nicht verstellen«, sagte Asterios, noch bevor Ikaros antworten konnte. »Nicht vor ihm. In seinem Herzen ist unser Geheimnis gut aufgehoben.«
    Ihre Augen wurden schmal und dunkel.

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