Palast der blauen Delphine
Theseus sah empört zu seinem Vater hinüber. Aigeus, der unter seinen Blicken noch mehr zu schrumpfen schien, wirkte so unsicher wie ein Mann, der nicht weiß, von welcher Seite er den Angriff erwarten muß. Wutentbrannt wandte Theseus sich wieder seinem Herausforderer zu. »Hüte dich, Kreter!« zischte er. »Du bist Gast in Athenai, wo männliche Tugenden etwas gelten. Von weibischen Wortverdrehern halten wir hier nicht viel!«
Minos hatte Mühe, sein Lächeln zu unterdrücken. Der Moment zum Handeln war gekommen. Er stand abrupt auf. »Das reicht! Wir haben nicht die stürmische See befahren, um uns von einem unreifen Knaben provozieren zu lassen«, sagte er mit eisiger Stimme.
Aigeus starrte ihn fassungslos an. Minos ließ unter seinem Umhang den Dolch aufblitzen, den er am Riemengehänge trug und, allen Regeln der Gastfreundschaft zum Trotz, nicht abgelegt hatte.
»Du wirst verstehen, daß wir uns jetzt zurückziehen«, fuhr der Kreter finster fort. »Du findest uns in unseren Gemächern, wo wir gern die Entschuldigung deines Sohnes erwarten. Spann uns aber nicht allzulang auf die Folter.« Seine Stimme war schneidend, und kein Laut war mehr im Saal zu hören. »Sonst sehen wir uns gezwungen, die Zahl der Kinder zu verdoppeln, die uns nach Kreta begleiten werden. Diese Maßnahme wird gewährleisten, daß wenigstens ein paar Athener dabei sind, die wissen, was sich gehört!«
Strongyle
Im Traum fand er die Geliebte wieder. Ariadne erschien ihm schöner als je zuvor. Ihre Augen glänzten, und ihr heller Körper war nur von einem dünnen Kleid verhüllt. Sie stand in einer kleinen Bucht und schaute auf das Meer hinaus, so wie damals bei ihrer ersten Begegnung. Voller Sehnsucht zog sich sein Herz zusammen, als er sah, wie sie in die offene See hinausschwamm.
Asterios wollte ihr nach, bevor sie im glänzenden Auf und Ab der Wellen verschwunden war. Aber seine Bemühungen waren vergebens.
Er erwachte, und den ganzen Morgen über blieb er verschlossen und kramte so lange in seinen Sachen herum, daß Ikaros schließlich zu drängen begann.
»Gestern konntest du nicht schnell genug zum Tempel kommen, und heute scheinst du auf einmal gar keine Eile mehr zu haben.«
»Ich habe schlecht geträumt«, murmelte er.
Ikaros runzelte die Stirn. »Du hast Angst, daß sie dich nicht mehr liebt. Das wäre fast schlimmer, als ihren Tod zu ertragen, nicht wahr?«
»Sei nicht so zynisch! Ich mag es nicht, wenn du so bist!«
»Meinst du, ich?« lachte Ikaros bitter. »Ich bin mir oft selbst im Weg mit meiner inneren Zerrissenheit und meinen ständigen Zweifeln. Ich weiß nicht, warum ich so bin.«
Asterios konnte den plötzlichen Schmerz in seinen Augen kaum ertragen. »Weil du nicht ruhst, bis du den Dingen auf den Grund gegangen bist«, sagte er voller Wärme. »Weil du treu bist und lieben kannst.«
»Danke«, murmelte Ikaros und wandte sich ab. Nachdem Asterios sich von Demonike verabschiedet hatte, machten sie sich gemeinsam auf den Weg. Der Morgen war sonnig und bereits sehr warm. Sie ließen die Stadt hinter sich und kamen an Olivenhainen vorbei, an Weinstöcken, die schon die ersten frischen Blätter zeigten. Frühlingsblumen blühten auf den Wiesen, die Luft war weich und erfüllt von Vogelgezwitscher. Sie durchquerten mehrere Dörfer, wo die meisten der strohgedeckten Häuser unversehrt geblieben waren. Nur zwei Gehöfte, die am Hang lagen, waren eingestürzt, das Dachgebälk schwarz versengt. Es schien, als habe der glühende Atem des Berges diesen Teil der Insel bloß gestreift. Als sie schließlich auf einer Anhöhe Rast machten, glitzerte das Meer türkisblau zu ihren Füßen.
Sie ließen sich ins Gras sinken, erfüllt von der Wärme und den Düften des Frühlings. Ikaros hatte die Augen geschlossen. Plötzlich hörte er, daß Asterios neben ihm weinte.
»Das alles wird untergehen«, flüsterte er. Nie zuvor hatte Ikaros ihn so verzweifelt gesehen. »Diese Schönheit, diese Fülle … Asche wird alles begraben!«
»Und wenn das Schicksal selbst es so bestimmt hat?« sagte Ikaros leise. Seine Stimme klang fragend, als ließe er seine Gedanken nur zögernd Gestalt annehmen. »Wenn einer Zeit des Blühens notgedrungen Zerstörung folgen muß, um wieder einen neuen Anfang zu ermöglichen?« Asterios sah ihn überrascht an. »Wenn auch hier die Gesetze der Spirale gültig sind und sich vollziehen wird, was sich vollziehen muß?« sprach Ikaros unbeirrt weiter. »Manchmal glaube ich, daß unsere menschliche
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