Palast der blauen Delphine
sein Sohn bei uns ist, kann Aigeus es sich nicht leisten, nicht mit uns zu kooperieren.«
»Noch bin ich Königin, und die Große Mutter lenkt das Schicksal dieser Insel durch meine Hand«, erwiderte Pasiphaë schroff. Sie drehte den goldenen Delphinring an ihrer Hand hin und her. »Wozu brauchen wir Eisen? Für Waffen, die andere töten? Damit wir uns selbst in Gefahr bringen? Wir werden nicht zulassen, daß du zerstörst, was seit Urbeginn in Schönheit und Harmonie entstanden ist.«
Minos blieb lange die Antwort schuldig. Stumm ließ er seinen Blick über die alabasterverkleideten Wände schweifen, den Steinfries, der das Megaron schmückte.
»Ist das wirklich alles, was Sie euch Frauen beigebracht hat, um die Anforderungen einer ungewissen Zukunft zu meistern?« sagte er schließlich resigniert. »Ist das alles, was du Phaidra als Erbe mitzugeben hast? Dann tust du mir leid, Pasiphaë! Vielleicht gelingt es dir noch, die jungen Barbaren mit leeren Gesten zu beeindrukken. Um die Zukunft Kretas zu sichern, reichen sie nicht aus.«
Pasiphaë kehrte zu ihrem Spielbrett zurück, als habe er den Raum bereits verlassen. Während sie scheinbar grübelnd über den Figuren saß, begann sie zu sprechen, so leise, daß Minos sich anstrengen mußte, ihre Worte zu verstehen.
»Du hast den Sinn unserer Rituale nie verstanden! Aber was soll ich einem Tauben erzählen! Jedes weitere Wort wäre zuviel. Geh jetzt!«
Aus der Vorhalle drangen die gedämpften Stimmen der jungen Athener, die dort auf Einlaß warteten. Unter die teils tiefen, teils noch brüchigen Stimmen der Knaben mischten sich die helleren der Mädchen, unter denen ein klarer Sopran hervorstach. Sein Klang brachte Minos augenblicklich das Bild des dazugehörigen Mädchens zurück: Eriboia, die junge Athenerin, so unschuldig blond – wie Pasiphaë dunkel und wissend.
Er spürte, wie das Blut heißer durch seine Adern rann. Ich bin noch kein alter Mann, dachte er befriedigt. Ich werde mir die Kleine näher ansehen. Doch zunächst mußte er sich der Frau stellen, der es abermals gelungen war, ihn zu überraschen.
Pasiphaë trug schwarz. Auf dem Greifinnenthron saß nicht wie erwartet Rhea, die Herrin der Fruchtbarkeit, purpurprächtig und barbrüstig, sondern Moira, die Alte, in deren Hand alle Lebensfäden zusammenlaufen. Minos schien es, als habe sich mit dem Wechsel von leuchtendem Rot zu tiefem Schwarz auch eine tiefgreifende Veränderung der Frau vor ihm vollzogen: So streng und mächtig, so gefährlich und geheimnisvoll hatte er Pasiphaë noch nie erlebt. Sie war die schwarze Göttin, die erbarmungslos über die Nächte von Lust und Tod herrscht.
Die Mysten waren immer unruhiger geworden. Hernippos, ein rotblonder Athener, hatte sich ungeduldig an Theseus vorbeigedrängt. An der Schwelle zum Thronsaal jedoch blieb er wie angewurzelt stehen, schlug die Hände vor den Mund und starrte mit aufgerissenen Augen auf die dunkle Gestalt. Mirtho half dem Versteinerten schließlich mit einem kleinen Schubs weiter. Einer nach dem anderen kam nun durch den Türbogen; alle starrten überrascht die dunkle Königin der Tiefe an.
Minos, der von der Alabasterbank an der Westseite gespannt die Szene verfolgt hatte, zollte Pasiphaë widerwillige Bewunderung. Den Jugendlichen, die sich ängstlich aneinanderdrängten, bot sich ein beeindruckendes Bild, in dem sich Schönheit und Grauen mischten. Die Wände und der Fußboden waren in sattem Rot gehalten, nur an der Thronrückseite von einem elfenbeinfarbenen Wellenfries durchbrochen. In dieses Doppelband schmiegten sich die gemalten Leiber zweier Greifinnen, Fabelwesen mit Adlerköpfen und geflügelten Löwinnenkörpern, die als Wächterinnen den Thron flankierten. Friedlich, aber wachsam hielten sie ihre Schnäbel empor. Auf stilisierten Pflanzenstengeln ruhte der Alabasterthron, dessen heller Stein nur an einigen Stellen hinter dem strengen Schwarz der Schlangenkönigin hervorschimmerte.
Ihr Gesicht war weiß gekalkt und starr wie eine Maske. Die Linien der schwarzen Spiralen auf ihren Wangen, die leicht fettig glänzten, waren exakt gezogen. Unter schwarzgefärbten Lidern stachen ihre Augen giftig grün hervor, die Lippen waren in dunklem Brombeer gefärbt. Schlangengleich fielen feuchte Locken über Brust und Rücken auf ein tiefschwarzes Gewand, das schmucklos am Hals abschloß und ihre bloßen Füße verdeckte. Um den Hals trug Pasiphaë das Amulett der doppelköpfigen Schlange an einer langen gedrehten Kette.
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