Palast der blauen Delphine
Dutzende von Kerzen waren als Lichterwall halbkreisförmig vor dem Thron aufgesteckt und warfen von unten seltsame Schatten auf ihr Gesicht.
Als sie den Arm hob, um die Mädchen und Jungen näher heranzuwinken, bemerkte er, daß sie nicht den silbernen Reif der Hohepriesterin angelegt hatte. Um ihre nackten Arme, die vor dem Schwarz des Gewandes unnatürlich bleich wirkten, ringelten sich zwei lebendige Schlangen.
»Am Anfang aller Dinge war die Schlange«, begann sie in monotonem Singsang. Sie hatte die Augen halb geschlossen und schien Zeit und Raum entrückt zu sein. »Sie, die zornige, züngelnde Schlange, die im dunklen Leib der Erde wohnt. Aus Ihrem fruchtbaren Schoß gebiert Sie Wesen und Dinge, wenn die heiligen Opferfeuer vor den Altären der Nacht lodern. Wie der Mond, der seinen Schatten abstößt, um rund und voll zu leuchten, stößt auch Sie ihre Haut ab, um wiedergeboren zu werden aus schwarzer Tiefe. Ihr Bruder ist der Vogel, der in stolzem Flug das Lichtland erreicht.« Ihre Stimme wurde gellend, und die Athener zuckten erneut furchtsam zusammen. »Bevor ihr aber zum Adler werden könnt, der in den Weiten des Himmels zu Hause ist, müßt ihr lernen, den Stier zu bezwingen, der auf euch im Herzen des Labyrinths wartet.«
Eriboia hatte die tiefen, von Feuchtigkeit dunklen Rinnen zu beiden Seiten des Fußbodens entdeckt. Als ihr Blick auf die künstliche Grotte in der Südwand des Thronsaals gefallen war, in der sie glaubte, weitere Schlangenkörbe zu sehen, war sie sich sicher.
»Sie bringen uns um«, flüsterte sie in der bedrückenden Stille. »Alle!«
»Das läßt Apollo nicht zu! Denk an meinen Traum!« stieß Theseus hastig hervor. Aber seine Stimme klang dünn und kraftlos. Den Geruch von Angst konnten auch die wohlriechenden Essenzen des Räucherbeckens nicht überlagern. Auf ein Kopfnicken Pasiphaës hin brachte Mirtho mit einem Bastfächer Sandelholz und Myrrhe erneut zum Aufglimmen.
Phaidra folgte ebenfalls einem stummen Befehl der Königin. Mit einem schwarzen Stierkopf-Rhython, so schwer, daß sie es mit beiden Händen tragen mußte, trat sie vor die Mysten. Vor dem ersten Mädchen blieb sie stehen. Eriboia starrte schreckensbleich auf den Schädel, der von einem massiven, an den Spitzen vergoldeten Hörnerpaar gekrönt war.
»Trinkt sein Blut, damit Sie den Tod besiegen und neues Leben gebären kann.« Pasiphaë hob ihre Arme und zeigte ihnen abermals die züngelnden Schlangen. »Trinkt das Blut des Stiers, damit ihr den Baum der Mitte erreicht, in dem Zeit und Raum eins sind.«
»Knie nieder und trink!« wiederholte Phaidra und hielt dem Mädchen die schräg gehaltene Maulöffnung hin. Eriboia verzog angeekelt den Mund, bevor sie der sanften Stimme gehorchte. Dunkle, ein wenig verdickte Flüssigkeit rann fremdartig süß durch ihre Kehle. Als sie noch dem überraschend wohlschmeckenden Aroma nachspürte, war die junge Priesterin schon zum nächsten weitergegangen. Einer nach dem anderen beugte sein Knie und empfing aus Phaidras Hand den Trunk aus dem Maul des Stierkopfes.
Dann setzte der Gesang ein. Dünn und leise zunächst, unsicher noch, als habe die Sängerin nicht die Kraft, die Melodie lange zu halten, bis schließlich eine zweite Stimme einfiel, dann eine dritte, eine weitere, viele. Ein fünfsilbiger Gesang schwoll langsam an. Erst summten, dann sangen alle mit geschlossenen Augen und halbgeöffnetem Mund, leicht nach beiden Seiten wiegend, als führten die seit Urzeiten überlieferten Laute der Hoffnung sie aus der engen Begrenzung ihrer Körper hinaus. Die Stimmen verschmolzen schließlich zu einem einzigen Ton.
Theseus war der letzte in der Reihe. Er war stumm geblieben und hatte mit wachsender Verunsicherung um sich geschaut. Auch ihm bot Phaidra das Steinrhython und wartete geduldig, daß er niederknien würde, um zu trinken. Aber er blieb steif vor ihr stehen, stierte zu Boden und schüttelte den Kopf. Als er schließlich doch aufsah, konnte sie in seinen Augen trotzigen Widerstand erkennen. Den hatte sie schon am Hafen kennengelernt. Neu aber war die Angst, die Phaidra in ihnen lesen konnte.
»Einmal schon zuviel gekniet«, knirschte er mit zusammengebissenen Zähnen. Theseus hielt sich die Ohren zu, um sich vor dem durchdringenden Ton zu schützen, der alle anderen bereits in seinen Bann gezogen hatte. »Der Sohn des mächtigen Aigeus trinkt kein Stierblut.«
Phaidra konnte seine Verletztheit spüren und den Wunsch nach Rache und Vergeltung, registrierte aber
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